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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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doppelt so groß wie ihr altes Zimmer; er enthielt auch einen Schreibtisch, an dem sie würde arbeiten können, und gegenüber dem Schaukelstuhl, auf der anderen Seite des Kamins, einen Sessel. Nichts erinnerte an die funktionelle, fast spartanische Ausstrahlung des Zimmers, in dem sie bis dahin geschlafen hatte. Sie wusste, dass jede ihrer Mitbewohnerinnen dieses Zimmer liebend gern gehabt hätte.
    »Wenn eine der anderen dich fragt, sag einfach, dass dein eigenes Zimmer neu tapeziert wird«, sagte Mrs. Kehoe, während sie einen großen, dunkelrot gebeizten Einbauschrank öffnete, um Eilis zu zeigen, wo ihre Koffer und Taschen standen. Die Weise, wie Mrs. Kehoe dastand und sie ansah, mit einem stolzen, aber gleichzeitig auch fast weichen und traurigen Blick, brachte Eilis auf den Gedanken, dass dieses Zimmer noch zu der Zeit vor Mr. Kehoes Auszug eingerichtet worden sein könnte. Als sie das Doppelbett sah, fragte sie sich, ob das vielleicht das eheliche Schlafzimmer gewesen war und ob sie damals vielleicht die Zimmer in den oberen Geschossen vermietet hatten.
    »Das Bad ist am Ende des Korridors«, sagte Mrs. Kehoe. Sie stand etwas befangen inmitten der Schatten, als versuche sie, ihre Fassung wiederzugewinnen.
    »Und sag zu keinem ein Wort«, sagte Mrs. Kehoe. »Überhaupt liegst du nie falsch, wenn du diese Politik strikt befolgst.«
    »Das Zimmer ist wunderschön«, sagte Eilis.
    »Und du kannst dir ein Feuer machen«, sagte Mrs. Kehoe. »MissKeegan hat es allerdings immer nur sonntags gemacht, weil der Kamin viel Holz verbraucht. Ich weiß nicht, warum.«
    »Werden die anderen nicht wütend sein?« fragte Eilis.
    »Das ist mein Haus, also können sie wüten, soviel sie wollen, je mehr, desto lustiger.«
    »Aber –«
    »Du bist die einzige von ihnen, die Manieren hat.«
    Mrs. Kehoes Ton, während sie zu lächeln versuchte, ließ eine traurige Stimmung aufkommen. Eilis hatte das Gefühl, dass Mrs. Kehoe ihr zuviel gab, ohne sie gut genug zu kennen, und außerdem gerade eben zuviel gesagt hatte. Sie wollte nicht, dass Mrs. Kehoe ihr ihr Herz öffnete oder sich in irgendeiner Weise an sie hängte. Ein paar Momente sagte sie nichts, obwohl sie wusste, dass ihr das als Undank ausgelegt werden konnte. Sie nickte Mrs. Kehoe fast förmlich zu.
    »Wann werden die anderen erfahren, dass ich auf Dauer hier wohne?« fragte sie schließlich.
    »Wenn’s soweit ist. Es geht sie ohnehin nichts an.«
    Als sie sich die Tragweite dessen, was Mrs. Kehoe getan hatte, und die Probleme bewusst machte, die es ihr wahrscheinlich mit ihren Mitbewohnerinnen verursachen würde, wünschte sie sich, man hätte sie ungestört weiter in ihrem alten Zimmer wohnen lassen.
    »Ich hoffe, sie werden mir das nicht übelnehmen.«
    »Kümmer dich nicht um sie. Ich finde nicht, dass wir wegen denen auch nur eine einzige schlaflose Nacht verbringen müssen.«
    Eilis straffte den Rücken, um größer zu wirken, und blickte Mrs. Kehoe kühl an. Ihr war klar, dass die letzte Bemerkung ihrer Hauswirtin die feste Überzeugung zum Ausdruck brachte, sie und Eilis hätten nichts mit den anderen Mieterinnen gemein und seien bereit, ihnen zu verstehen zu geben, dass sie diese Sache gemeinsam ausgeheckt hatten. Eilis hielt das für eine ungeheure Anmaßungvon seiten Mrs. Kehoes, befürchtete aber auch, dass die Entscheidung, ihr, der zuletzt Eingezogenen, das beste Zimmer des Hauses zu überlassen, nicht nur Bitterkeit und Zwist zwischen ihr und Patty, Diana, Miss McAdam und Sheila Heffernan hervorrufen, sondern auch zur Folge haben würde, dass Mrs. Kehoe sich früher oder später berechtigt fühlen würde, für den Gefallen, den sie ihr getan hatte, eine Gegenleistung zu verlangen, etwa dann, wenn sie etwas dringend brauchte. Es konnte dadurch auch eine gewisse Vertraulichkeit zwischen ihnen entstehen, eine Art Freundschaft oder sonst eine enge Beziehung. Wie sie sich im Zimmer gegenüberstanden, verspürte Eilis fast so etwas wie Zorn auf Mrs. Kehoe, und dieses Gefühl, zusammen mit der Müdigkeit, schien ihr Mut zu verleihen.
    »Es ist immer besser, ehrlich zu sein«, sagte sie in dem Ton, den Rose gebrauchte, wenn sie der Meinung war, ihre Würde oder ihr Gefühl von Anstand würde gerade in irgendeiner Weise verletzt. »Ich meine, jedem gegenüber«, fügte sie hinzu.
    »Wenn du erst einmal so viel erlebt hast wie ich«, entgegnete Mrs. Kehoe mit einem halb gekränkten, halb streitbaren Blick, »wirst du feststellen, dass das nur manchmal stimmt.«
    Eilis

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