Brooklyn
den Treppen vor dem Haus saßen. Das hatte man sich im Winter gar nicht vorstellen können, und wie sie da entlanggingen, fühlte sich Eilis unbeschwert und glücklich.
»Ich muss dich warnen«, sagte Tony. »Ich hab einen kleinen Bruder, der Frank heißt. Er ist irgendwas zwischen Acht und Achtzehn. Er ist nett, aber er redet schon die ganze Zeit davon, was er meiner Freundin sagen wird, wenn er sie erst mal zu Gesicht kriegt. Er hat eine wirklich große Klappe. Ich hab versucht, ihm Geld zu geben, damit er mit seinen Freunden Ball spielen geht, und mein Dad hat ihn gewarnt, aber er sagt, keiner von uns wird ihn aufhalten. Wenn er es erst mal losgeworden ist, wirst du ihn mögen.«
»Was wird er denn sagen?«
»Das Problem ist, wir wissen es nicht. Was immer ihm einfällt.«
»Das klingt äußerst spannend«, sagte sie.
»O ja, und da ist noch was.«
»Lass mich raten. Du hast eine alte Oma, die in der Ecke sitzt und ebenfalls mitreden möchte.«
»Nein, die ist in Italien. Das Problem ist, die sind samt und sonders Italiener, und sie sehen auch so aus. Sie sind richtig dunkel, alle außer mir.«
»Und wie haben sie dich bekommen?«
»Der Dad meiner Mom sah so aus wie ich, so heißt es jedenfalls, aber ich habe ihn nie gesehen, und mein Dad hat ihn nie gesehen,und meine Mom erinnert sich nicht an ihn, weil er im Ersten Weltkrieg gefallen ist.«
»Glaubt dein Dad etwa –« Sie fing an zu lachen.
»Es treibt meine Mom in den Wahnsinn, aber das glaubt er nicht wirklich, er sagt nur manchmal, wenn ich etwas Komisches mache, dass ich ein Kuckucksei sein muss. Das ist bloß ein Witz.«
Seine Familie wohnte im zweiten Stock eines dreistöckigen Hauses. Eilis war überrascht, wie jung Tonys Eltern aussahen. Seine drei Brüder hatten, so wie er gesagt hatte, alle schwarze Haare und dunkelbraune Augen. Die zwei älteren waren viel größer als Tony. Frank stellte sich als der Jüngste vor. Sein Haar, fand sie, war erstaunlich dunkel, ebenso seine Augen. Die zwei anderen wurden ihr als Laurence und Maurice vorgestellt.
Ihr war sofort klar, dass sie die Verschiedenheit zwischen Tony und dem Rest der Familie nicht kommentieren durfte, da bestimmt jeder, der diese Wohnung betrat und sie zum erstenmal alle zusammen sah, eine ganze Menge zu diesem Thema zu sagen hatte. Sie tat so, als fiele ihr das gar nicht auf. Zunächst nahm sie an, die Küche sei lediglich das erste Zimmer und dahinter würden ein Wohn- und ein Esszimmer kommen, aber allmählich wurde ihr klar, dass die eine Tür in ein Schlafzimmer führte, in dem die Jungen schliefen, und die andere Tür in ein Bad. Mehr Zimmer gab es nicht. Der kleine Küchentisch war für sieben gedeckt. Sie nahm an, dass es hinter dem Zimmer der Jungen noch ein weiteres Schlafzimmer für die Eltern gab, aber sobald Frank den Mund aufmachte, erfuhr sie, dass sie in einer Ecke der Küche schliefen, in einem Bett, das, wie er ihr zeigte, diskret verdeckt, hochgeklappt an der Wand stand.
»Frank, wenn du nicht die Klappe hältst, kriegst du nichts zu essen«, sagte Tony.
Es roch nach Essen und Gewürzen. Die zwei älteren Brüder musterten sie aufmerksam, stumm, befangen. Sie fand, dass sie beide wie Filmstars aussahen.
»Wir mögen keine Iren«, sagte Frank plötzlich.
»Frank!« Seine Mutter kam vom Herd auf ihn zu.
»Mom, die mögen wir nicht. Das müssen wir klipp und klar sagen. Eine Bande von denen hat Maurizio zusammengeschlagen, so dass er genäht werden musste. Und die Bullen waren auch allesamt Iren, und deswegen haben sie nichts unternommen.«
»Francesco, halt den Mund«, sagte seine Mutter.
»Fragen Sie ihn«, sagte Frank zu Eilis und zeigte auf Maurice.
»Das waren nicht alles Iren«, sagte Maurice.
»Sie hatten rote Haare und dicke Beine«, sagte Frank.
»Hören Sie nicht auf ihn«, sagte Maurice. »Nur ein paar davon.«
Der Vater forderte Frank auf, ihm in den Flur zu folgen; als sie kurz danach zurückkamen, zeigte sich Frank, zur Freude seiner Brüder, entsprechend friedlich.
Als Frank ihr schweigend gegenübersaß, während Essen aufgetragen und Wein eingeschenkt wurde, tat er Eilis leid und sie bemerkte, wie sehr er gerade jetzt Tony ähnelte; seine Niedergeschlagenheit schien sein ganzes Wesen verändert zu haben. Am vergangenen Wochenende hatte Diana Eilis beigebracht, wie man Spaghetti richtig, lediglich mit der Gabel, aß, aber was jetzt aufgetischt wurde, war nicht so dünn und so glitschig wie die Spaghetti, die Diana für sie gekocht hatte.
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