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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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vorzustellen, was du empfindest.«
    »Ich denke darüber nach«, sagte Eilis, »und ich halte es nicht aus, und dann vergesse ich es eine Minute lang, und wenn es mirwieder einfällt, ist es so, als hätte ich es gerade erfahren. Ich komm nicht darüber weg.«
    »Ich wünschte, ich könnte bei dir bleiben«, sagte er.
    »Wir sehen uns morgen, und sag deiner Mutter, sie soll nicht kommen, wenn es ihr irgendwelche Umstände macht.«
    »Sie wird da sein. Von Umständen kann jetzt überhaupt nicht die Rede sein«, sagte er.
    Eilis betrachtete den Stoß von Briefen, die Rose ihr geschickt hatte, und fragte sich, ob Rose zwischen dem Absenden eines Briefes und dem Absenden des nächsten erfahren hatte, dass sie krank war. Oder ob sie es schon gewusst hatte, bevor Eilis weggegangen war. Es veränderte alles, was Eilis über ihre Zeit in Brooklyn gedacht hatte, es ließ alles, was sie erlebt hatte, unbedeutend erscheinen. Sie betrachtete Rose’ Handschrift, die durch ihre Klarheit und Gleichmäßigkeit einen Eindruck von höchster Selbstbeherrschung und Selbstsicherheit vermittelte, und sie fragte sich, ob Rose, während sie manche dieser Worte schrieb, aufgeschaut und geseufzt und sich dann durch schiere Willenskraft zusammengerissen und weitergeschrieben hatte, ohne einen einzigen Augenblick lang in ihrem Entschluss wankend zu werden, niemanden außer dem Arzt, der es ihr gesagt hatte, an ihrem Wissen teilhaben zu lassen.
    Es war seltsam, fand Eilis am nächsten Morgen, wie tief sie geschlafen hatte und wie sie gleich nach dem Aufwachen gewusst hatte, dass sie heute nicht zur Arbeit, sondern zu einer Messe für Rose gehen würde. Ihre Schwester war jetzt noch im Haus in der Friary Street, man würde sie gegen Abend in die Kathedrale bringen, und begraben würde man sie am nächsten Vormittag nach der Messe. Das alles erschien schlicht und klar und fast unvermeidlich, bis sie und Mrs. Kehoe sich auf den Weg zur Pfarrkirche machten. Während sie die vertraute Straße entlangging und an Menschen vorbeikam, die sie nicht kannte, kam Eilis der Gedanke, dass ebensogut einer von ihnen gestorben sein könnte und nichtRose und dass dies ein ganz normaler Frühlingsmorgen hätte sein können, mit einer Andeutung von Wärme in der Luft, und sie wie immer auf dem Weg zur Arbeit wäre.
    Dass Rose im Schlaf gestorben war, erschien ihr unvorstellbar. Hatte sie einen Moment lang die Augen geöffnet? Hatte sie einfach regungslos dagelegen und im Schlaf geatmet, und hatte dann, einfach so, ihr Herz aufgehört zu schlagen? Wie konnte das geschehen? Hatte sie in der Nacht gerufen und niemand hatte sie gehört, oder hatte sie wenigstens gemurmelt oder geflüstert? Hatte sie am Abend davor irgend etwas gespürt? Irgend etwas, was auch immer, das sie hätte ahnen lassen können, dass dies ihr letzter Tag auf Erden war?
    Sie stellte sich Rose vor, wie sie jetzt im dunklen Gewand der Toten aufgebahrt lag, während auf dem Tisch Kerzen flackerten. Und wie später der Sarg geschlossen wurde und wie feierlich alle Menschen im Flur und draußen auf der Straße blickten, ihre Brüder im Anzug und mit schwarzer Krawatte, genau wie beim Begräbnis ihres Vaters. Den ganzen Vormittag lang, während der Messe und dann wieder in Father Floods Haus, ging sie im Geist jeden Augenblick von Rose’ Tod und ihrem Abtransport durch.
    Die anderen waren überrascht, fast erschrocken, als sie sagte, dass sie am selben Nachmittag zur Arbeit wollte. Sie sah, dass Mrs. Kehoe mit Father Flood flüsterte. Tony fragte sie, ob sie sich sicher sei, und als sie darauf beharrte, sagte er, er werde sie zum Bartocci’s begleiten und sie dann später bei Mrs. Kehoe treffen. Mrs. Kehoe hatte ihn und Father Flood eingeladen, zusammen mit den anderen Mieterinnen zu Abend zu essen und anschließend einen Rosenkranz für Rose’ Seele zu beten.
    Eilis ging auch am folgenden Tag wieder arbeiten und war fest entschlossen, ihren Kurs am Abend nicht ausfallen zu lassen. Da sie nicht ins Kino oder tanzen gehen konnten, gingen sie und Tony in einen Diner in der Nähe, und er sagte, es mache ihmnichts aus, wenn sie keine Lust habe, viel zu reden, oder wenn sie weinte.
    »Ich wünschte, das wäre nicht passiert«, sagte er. »Ich wünsche mir die ganze Zeit, das wäre nicht passiert.«
    »So geht’s mir auch«, sagte Eilis. »Wenn sie uns doch bloß etwas gesagt hätte. Oder wenn bloß nichts passiert wäre und sie gesund und munter wäre. Ich wünschte, ich hätte ein Photo von ihr, damit

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