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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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Frank in seinem Pyjama auf. Er hatte sich so leise bewegt, dass sie ihn erst bemerkte, als er schon beinahe vor ihr stand. Er wirkte so ungeheuer neugierig und heimlichtuerisch, dass es fast zum Lachen war, als sei er jemand in einem Film, dergerade Zeuge eines Raubüberfalls oder eines Mordes auf einer dunklen Straße geworden war. Und dann sah er ihr direkt ins Gesicht und lächelte ihr zu, und sie konnte nicht anders, sie musste ebenfalls lächeln, gerade als Tony erschien, und dann hieß es, Frank solle sich um seine eigenen Angelegenheiten kümmern und Eilis in Ruhe lassen, und er musste zurück ins Schlafzimmer.
    Sie sah Tony an, dass er schon geschlafen hatte. Er vergewisserte sich, dass er seine Schlüssel eingesteckt hatte, dann schlich er noch einmal in die Küche zurück, wo sie ihn nicht sehen konnte, und flüsterte seiner Mutter oder seinem Vater etwas zu und kam mit einem ernsten und verantwortungsvollen und besorgten Gesichtsausdruck wieder.
    Während sie die Straße entlang zum Diner gingen, hielt Tony sie an sich gedrückt. Sie gingen langsam und sprachen kein Wort. Im Treppenhaus hatte sie eine Sekunde lang das Gefühl gehabt, er sei böse, weil sie so spät vorbeigekommen war, aber jetzt merkte sie, dass sie sich getäuscht hatte. An der Art, wie er sich immer an sie schmiegte, wenn sie nebeneinander hergingen, erkannte sie, dass er sie liebte. Und jetzt presste er sie sogar noch enger an sich als gewöhnlich. Sie wusste auch, dass es ihm viel bedeutete zu wissen, dass sie, wenn sie wie jetzt Hilfe brauchte, keine Scheu hatte, eher zu ihm zu kommen als zu Father Flood oder Mrs. Kehoe, dass er für sie die erste Wahl war. So direkt und eindringlich hatte sie ihm noch nie zu verstehen gegeben, dass sie bei ihm bleiben würde.
    Im Diner las er, sobald sie bestellt hatten, Jacks Brief langsam durch – fast zu langsam, dachte sie – und formte dabei einzelne Wörter lautlos mit den Lippen nach. Ihr kam der Gedanke, es wäre besser gewesen, wenn sie ihm den Brief nicht gezeigt hätte und auch nicht einfach so bei ihm aufgetaucht wäre. Er konnte unmöglich lesen, dass ihre Mutter sie sehen wollte, dass ihre Mutter nicht allein leben konnte, ohne befürchten zu müssen, dass sie weggehen würde und dass das ihre Art war, ihm das mitzuteilen.Als sie ihm beim Lesen zusah, wie er, mit bleichem Gesicht und todernstem Ausdruck, sich verbissen zu konzentrieren schien, vermutete sie, dass er gerade bei jenen Passagen des Briefes war, die andeuteten, dass sie bei ihrer Mutter in Enniscorthy gebraucht wurde. Sie bedauerte jetzt, dass es ihr nicht gelungen war, sich zu beherrschen, dass sie das nicht vorhergesehen hatte. Und sie fühlte sich dumm, da sie wusste, dass sie, egal, was sie sagte, unmöglich Tony davon würde überzeugen können, dass sie nicht nach Irland zurückkehren würde.
    Als er ihr den Brief zurückgab, hatte er Tränen in den Augen.
    »Dein Bruder muss ein sehr netter Mensch sein«, sagte er. »Ich wünschte …« Er zögerte einen Moment und beugte sich dann über den Tisch und nahm ihre Hand. »Ich meine nicht, dass ich es mir wünsche, aber es wäre richtig gewesen, wenn du und ich beim Begräbnis dabeigewesen wären, wenn ich mit dir hätte dort sein können.«
    »Ich weiß«, sagte sie.
    »Und bald wird deine Mutter schreiben«, sagte er, »und du musst zu mir kommen, bevor du den Brief auch nur aufmachst.«
    Sie konnte nicht erkennen, ob er meinte, sie dürfe nicht allein sein, wenn sie den Brief ihrer Mutter aufmachte, weil er da sein sollte, um sie trösten zu können. Oder ob er in Wirklichkeit vielmehr meinte, dass er, da er nicht genau wusste, was in ihr vorging, oder erraten konnte, was sie zu tun beabsichtigte, gern selbst sehen würde, was ihre Mutter zu sagen hatte, ob sie ihr zum Wegfahren oder zum Bleiben riet.
    Das Ganze war ein Fehler gewesen, dachte sie wieder und begann sich zu entschuldigen, weil sie ihn gestört hatte. Als ihr bewusst wurde, wie kalt das klang und wie sehr sie sich dadurch von ihm zu distanzieren schien, sagte sie ihm, sie sei ihm dankbar dafür, dass er jetzt, wo sie ihn brauchte, mit ihr weggegangen sei. Er nickte, aber sie wusste, dass der Brief ihn beunruhigte, oder vielleicht nahm er ihn auch nur mit, wie er sie mitgenommenhatte, oder vielleicht war es auch eine verwirrende Mischung aus beidem.
    Er bestand darauf, sie nach Haus zu begleiten, obwohl sie einwandte, dass er dann wahrscheinlich die letzte U-Bahn verpassen würde. Wieder sprachen sie

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