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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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Wege unerforschlich sind.«
    »Ich wünschte, ich wäre nie hierhergekommen.«
    Sie brach wieder in Tränen aus und wiederholte dabei ständig: »Ich wünschte, ich wäre nie hierhergekommen.«
    »Mein Wagen steht draußen, und wir können zum Pfarrhaus fahren. Es wird Ihnen guttun, wissen Sie, mit Ihrer Mutter zu reden.«
    »Ich habe ihre Stimme nicht mehr gehört, seit ich von zu Hause weg bin«, sagte Eilis. »Es waren immer nur Briefe. Es ist furchtbar, dass ich ausgerechnet jetzt zum erstenmal mit ihr telefoniere.«
    »Das weiß ich, Eilis, und sie wird das auch so empfinden. Father Quaid sagte, er würde sie abholen und zum Pfarrhaus fahren. Ich könnte mir vorstellen, sie steht unter Schock.«
    »Was soll ich ihr bloß sagen?«

    Anfangs sprach ihre Mutter stockend und leise; sie klang so, als redete sie mit sich selbst, und Eilis musste sie unterbrechen, um ihr zu sagen, dass sie sie nicht verstand.
    »Kannst du mich jetzt hören?« fragte ihre Mutter.
    »Ja, Mama, jetzt schon. Jetzt ist es viel besser.«
    »Es ist so, als würde sie schlafen, und genauso war es heute morgen«, sagte ihre Mutter. »Ich bin sie wecken gegangen, und sie schlief tief und fest, und da hab ich mir gesagt, ich lass sie. Aber wie ich die Treppe runterging, da wusste ich’s. Es sah ihr gar nicht ähnlich, zu verschlafen. Ich hab in der Küche auf die Uhr gesehen und gesagt, ich geb ihr noch zehn Minuten, und dann bin ich raufgegangen und hab sie angefasst, und sie war eiskalt.«
    »O Gott, das ist ja furchtbar.«
    »Ich habe ihr ein Bußgebet ins Ohr geflüstert. Dann bin ich nach nebenan gelaufen.«
    Das Schweigen in der Leitung wurde lediglich durch ein leises Knistern unterbrochen.
    »Sie ist während der Nacht im Schlaf gestorben«, fuhr ihre Mutter schließlich fort. »Das hat Dr. Cudigan gesagt. Sie ging schon seit einiger Zeit zum Arzt, ohne jemand was zu sagen, und sie hat Untersuchungen machen lassen, ohne jemand was zu sagen. Rose wusste es, Eily, sie wusste, dass es jeden Augenblick passieren konnte wegen ihres Herzens. Sie hatte ein schwaches Herz, hat Dr. Cudigan gesagt, und da war nichts zu machen. Sie hat ganz normal weitergelebt.«
    »Sie wusste, dass sie ein schwaches Herz hatte?«
    »Das hat der Arzt gesagt, und sie hat beschlossen, weiter Golf zu spielen und alles wie immer zu machen. Der Arzt hat gesagt, er hätte ihr gesagt, sie sollte etwas kürzer treten, aber selbst wenn sie auf ihn gehört hätte, hätte es genauso passieren können. Ich weiß nicht, was ich denken soll, Eily. Vielleicht war sie sehr tapfer.«
    »Sie hat niemand was gesagt?«
    »Niemand, Eily, keiner Menschenseele. Und jetzt sieht sie ganz friedlich aus. Ich habe sie angesehen, bevor ich gegangen bin, und für einen Moment hab ich gedacht, dass sie noch immer bei uns ist, sie ist so unverändert. Aber sie ist nicht mehr da, Eily. Rose ist heimgegangen, und das ist das allerletzte auf der Welt, womit ich gerechnet hätte.«
    »Wer ist jetzt im Haus?«
    »Die Nachbarn sind alle da und dein Onkel Michael, und aus Clonegal sind sie gekommen, alle Doyles, sie sind auch da. Als dein Papa gestorben ist, hab ich mir gesagt, ich sollte nicht zuviel weinen, denn ich hatte noch dich und Rose und die Jungs, und als die Jungs fort sind, habe ich das gleiche gesagt, und als du fortgegangen bist, da hatte ich noch Rose, aber jetzt habe ich überhaupt niemand mehr, Eily, ich hab niemand mehr.«
    Eilis wusste, dass sie nicht zu verstehen war, als sie zu antworten versuchte, weil sie so laut weinte. Am anderen Ende der Leitung schwieg ihre Mutter eine Zeitlang.
    »Morgen werde ich ihr in deinem Namen Lebewohl sagen«, sagte ihre Mutter dann. »So habe ich mir das gedacht. Ich werde ihr in meinem Namen Lebewohl sagen, und dann werde ich ihr in deinem Namen Lebewohl sagen. Und sie ist jetzt bei deinem Vater im Himmel. Wir werden sie neben ihm begraben. Nachts habe ich oft gedacht, dass er furchtbar einsam sein muss, so allein auf dem Friedhof, aber von nun an hat er Rose. Sie sind oben im Himmel, alle beide.«
    »Bestimmt, Mama.«
    »Ich weiß nicht, warum sie so jung von uns gehen musste, mehr habe ich dazu nicht zu sagen.«
    »Es ist ein furchtbarer Schlag«, erwiderte Eilis.
    »Sie war kalt heute morgen, als ich sie berührt habe, so kalt wie sonstwas.«
    »Sie ist bestimmt friedlich gestorben«, sagte Eilis.
    »Ich wünschte, sie hätte es mir gesagt oder irgendwie zu verstehen gegeben, dass irgend etwas nicht in Ordnung war. Sie wollte nicht, dass ich mir

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