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Brooklyn

Brooklyn

Titel: Brooklyn Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Colm Tóibín
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gerne sehen, sie sagt dauernd, das ist das einzige, worauf sie noch hofft, aber wir wissen nicht, was wir dazu sagen sollen. Sie hat nicht gesagt, dass ich Dir das sagen soll, aber ich denke mal, das erfährst Du sowieso, sobald sie schreiben kann. Ich glaube, sie möchte, dass Du heimkommst. Sie hat noch nie eine einzige Nacht allein in diesem Haus geschlafen, und sie sagt ständig, dass sie das unmöglich kann. Aber wir müssen zurück. Sie hat mich gefragt, ob es nicht hier in der Stadt Arbeit gibt, und ich hab gesagt, ich würd mich umhören, aber die Sache ist die, dass ich zurückmuss, und Pat und Martin auch. Tut mir leid, dass ich so wirres Zeug schreibe. Die Nachricht muss für Dich ein furchtbarer Schock gewesen sein. Das war sie für uns auch. Wir haben den ganzen Tag gebraucht, um Martin zu finden, weil er auswärts gearbeitet hat. Es ist schwer, sich vorzustellen, dass Rose jetzt auf dem Friedhof liegt, mehr habe ich dazu nicht zu sagen. Mama möchte bestimmt, dass ich sage, dass alle Leute sehr nett waren, und das waren sie auch, und sie will bestimmt nicht, dass ich sage, dass sie ununterbrochen weint, aber das tut sie, oder jedenfalls meistens. Jetzt höre ich auf zu schreiben und steck das in den Umschlag. Ich les das nicht noch mal durch, weil ich schon ein paarmal angefangen habe, und als ich es gelesen habe, hab ich’s zerrissen und musste wieder von vorn anfangen. Ich klebe den Umschlag zu und werf ihn morgen früh ein. Martin erklärt ihr, glaub ich, dass wir morgen fahren müssen. Ich hoffe, dieser Brief ist nicht zu schlimm geworden, aber wie gesagt, ich wusste nicht, was ich reinschreiben sollte. Mama wird froh sein, dass ich ihn abgeschickt hab, und jetzt gehe ich hin und sag ihr, dass er fertig ist. Du wirst ein Gebet für sie sprechen müssen. Ich mache jetzt Schluss.
    Dein Dich liebender Br uder Jack

    Eilis las den Brief ein paarmal durch, und dann wurde ihr bewusst, dass sie jetzt unmöglich allein bleiben konnte, sie konnte Jacks Stimme in den Worten hören, die er schrieb, sie spürte seine Anwesenheit im Zimmer, und es war so, als sei er gerade von einem Hurling-Spiel zurück und seine Mannschaft habe verloren und er sei noch ganz außer sich. Wäre sie zu Hause gewesen, hätte sie mit Jack reden können, ihm zuhören, mit ihrer Mutter und Martin und Pat zusammensitzen und das, was geschehen war, besprechen. Sie konnte sich Rose nicht tot vorstellen; sie hatte sie sich schlafend vorgestellt und aufgebahrt wie jemand, der schlief, aber jetzt dachte sie sich Rose wie etwas aus Stein, leblos und im Sarg eingeschlossen, völlig verändert und sich immer weiter verändernd und nicht mehr bei ihnen. Sie wünschte sich fast, Jack hätte nicht geschrieben, aber sie wusste, irgendjemand musste schreiben, und er war derjenige, der es am besten konnte.
    Sie ging im Zimmer auf und ab, unschlüssig, was sie tun sollte. Einen Augenblick lang überlegte sie, ob sie mit der U-Bahn zum Hafen fahren und sich nach der nächsten Schiffspassage erkundigen sollte, und dann einfach den Fahrpreis entrichten und warten und an Bord gehen. Aber ihr wurde rasch klar, dass das unmöglich war; vielleicht war ja kein Platz mehr frei, und ihr Geld lag auf der Sparkasse. Sie dachte daran, nach oben zu gehen, und ließ alle ihre Mitbewohnerinnen Revue passieren, aber keine von ihnen hätte ihr jetzt helfen können. Der einzige Mensch, der ihr jetzt helfen konnte, war Tony. Sie sah auf die Uhr; es war halb elf. Wenn sie sich beeilte, konnte sie mit der U-Bahn in weniger als einer Stunde bei ihm sein, vielleicht auch etwas später, falls nachts nicht so viele Züge fuhren. Sie nahm ihren Mantel und ging rasch hinaus auf den Korridor. Sie öffnete und schloss die Souterraintür und bemühte sich, die Treppe möglichst geräuschlos hinaufzusteigen.
    Tonys Mutter kam im Morgenrock an die Haustür und führte sie die Treppe hinauf zur Wohnung. Die Familie hatte sich offensichtlich schon schlafen gelegt, und Eilis wusste, dass sie jetzt nicht verzweifelt genug wirkte, um ihr spätes Erscheinen zu rechtfertigen. Sie sah durch die Tür, dass das Bett von Tonys Eltern schon aufgeklappt war, und war nahe daran, Tonys Mutter zu sagen, es sei schon gut, es tue ihr leid, sie gestört zu haben, und sie gehe wieder nach Hause. Aber das wäre unsinnig gewesen. Tony, sagte seine Mutter, zog sich gerade an und würde mit ihr rausgehen; er rief vom Schlafzimmer aus, dass sie zum Diner um die Ecke gehen könnten.
    Plötzlich tauchte

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