Bruce: Die Springsteen-Biografie (German Edition)
getanzt hatte – störte sich an dem Look der neuen Band. Insbesondere das Erscheinungsbild des Gitarristen, mit seinen spitzen Schuhen, der hautengen Hose und der dichten, dunklen Lockenmähne, irritierte ihn. »Shane passte einfach nicht zu Bruce auf die Bühne«, sagt er. »Keine Frage: Er spielte großartig. Aber mit seinen Beatles-Boots und dieser Frisur wirkte er da oben schon reichlich sonderbar. Steve [Van Zandt] war auch ein ziemlich skurriler Typ, aber seine Skurrilität hatte etwas durch und durch Vertrautes – ich hatte mich nach ein paar Konzerten daran gewöhnt. Und wenn man einmal an etwas gewöhnt ist, kann man sich nur schwer mit etwas anderem anfreunden.« Einigen von Bruce’ altgedienten Crewmitgliedern kam es so vor, als hätten Eindringlinge ihre Bühne erobert. Sie nannten die neue Gruppe die Andere Band, und sobald sie an irgendeinem der Musiker auf der Bühne eine Schwäche entdeckten, sorgten sie dafür, dass alle anderen schleunigst davon erfuhren.
Falls Bruce irgendetwas davon mitbekam, ließ er es seine Musiker nicht wissen. Ihm gefiel, was er hörte. Lief etwas nicht zu seiner Zufriedenheit – etwa wenn die Brillanz der Band durch technische Mängel getrübt wurde oder das Publikum einfach keine Verbindung zu ihnen herstellen konnte –, biss er die Zähne zusammen und legte sich noch mehr ins Zeug. »Er ließ sich von nichts beirren«, sagt Alford. »Er legte einfach immer noch einen Zacken zu, bis alle im Publikum standen. So etwas habe ich bei noch keinem anderen Musiker erlebt. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob das überhaupt irgendein anderer Musiker schaffen könnte. Letztendlich kriegt er sie immer dahin, wo er sie haben will: Irgendwann sind sie alle einfach nur selig.«
Als sie im Frühjahr 93 zu einer weiteren Europatour aufbrachen, waren sie perfekt aufeinander eingespielt. Fontaynes geschmeidige Gitarrensoli boten einen interessanten Kontrast zu Bruce’ knallharten Attacken. Tommy Sims Bass harmonierte perfekt mit Zach Alfords leichtfüßigem Schlagzeug. Der Backgroundchor setzten allem das i-Tüpfelchen auf, und die Sängerin und Multiinstrumentalistin Crystal Taliefero legte sich als Bruce’ Bühnenpartnerin so sehr ins Zeug, dass es bald kaum noch jemanden wunderte, wenn sie gegen Ende der Show mitten auf der Bühne stand und das Saxofonsolo zu »Born to Run« spielte. Immer wenn das ein oder andere Mitglied der E Street Band seinem ehemaligen Boss auf der Bühne einen Besuch abstattete, brandete allerdings Jubel auf, der keinen Zweifel daran ließ, worin der Unterschied bestand zwischen einem normalen fantastischen Rockkonzert und den einzigartigen Rock’n’Roll-Messen, die Bruce und die E Streeter einst zelebriert hatten. Clarence Clemons ließ sich bis zum vorletzten Konzert der Tour, einer Veranstaltung zugunsten der Hungerhilfe in der Brendan Byrne Arena, nicht blicken. Als er dann aber während »Tenth Avenue Freeze-Out« die Bühne betrat, just in dem Moment, als Bruce die Zeile »And the Big Man joined the band« sang, brach ein Beifallsturm los, der Fontayne fast von den Socken haute. »Eine derart leidenschaftliche Publikumsreaktion hatte ich noch nie erlebt«, sagt er.
Nicht so Bruce. Solche Begeisterungsstürme hatte er die meiste Zeit seines Lebens erlebt, er hatte sie entfacht. Während die meisten Mitglieder der Anderen Band nach einem Jahr auf Tour mit Bruce überzeugt waren, dass sie bald auch zusammen nach Japan reisen würden und danach möglicherweise weitere gemeinsame Herausforderungen auf sie warteten, wollte sich Fontayne mit dem zufriedengeben, was er erreicht hatte. »Alles an dieser Tour war absolut erstklassig. Man musste nicht mit Kontaktleuten verhandeln, und niemand hatte Grund, mit irgendetwas unzufrieden zu sein, weil alles immer organisiert, gut vorbereitet, einfach perfekt war. Man begriff relativ schnell, dass das ein richtiges Unternehmen war, für das man arbeitete, und dass man sich um nichts sorgen musste.«
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1 Bruce hatte kurz zuvor ein kleines Haus direkt neben dem gekauft, in dem er mit seiner Familie lebte, um es als Gästehaus und temporäres Aufnahmestudio zu nutzen.
2 Columbia Records gehörte mittlerweile zum japanischen Mediengiganten Sony.
3 Leider erinnert sich niemand mehr an den Namen dieses Musikers.
4 Dieser politische Aspekt wurde umso relevanter, nachdem die Bandprobe am 29. April wegen gewalttätiger Unruhen in Los Angeles abgebrochen wurde. Anlass für die mehrtägigen Krawalle
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