Bruce: Die Springsteen-Biografie (German Edition)
aus der Sicht eines unbeteiligten Beobachters. Was er sah, erinnerte ihn an sein eigenes Leben. »Wir unterhielten uns stundenlang über alles Mögliche«, sagt Tellone. »Über meine Ex-Frau, seine Ex-Freundinnen, Musik und Songwriting.« Im Zuge seiner Aufzeichnungen stolperte Bruce immer wieder über Bildungslücken, die auf sein mangelndes Interesse in der Schulzeit zurückzuführen waren. »Ihm fehlten einfach einige Grundlagen«, erinnert sich Tellone. »Doch er holte alles nach. Seinen Thesaurus und sein Reimwörterbuch hatte er immer dabei, und wenn er einen Ausdruck gefunden hatte, der ihm gefiel, fragte er, ob man ihn in diesem oder jenem Zusammenhang verwenden konnte.«
Bruce las nicht viel. Alles, was er über das Schreiben von Erzählungen, den Aufbau von Spannungsbögen, die Charakterisierung von Figuren und die Bedeutung ihrer Äußerungen und Beziehungen wusste, lernte er aus Filmen. Er analysierte die Bildsprache anhand ihn beeindruckender Szenen und verstand allmählich, wie sie Ideen und Themen transportierten, die der Dialog alleine nie vermitteln konnte. Eine besonders ergiebige Quelle war ein Audie-Murphy-Western von 1959, der von einem jungen Siedlerpaar handelt, dem der erste Besuch in einer größeren Stadt fast zum Verhängnis wird. Weil er sich selbst in dieser Geschichte wiedererkannte, notierte sich Bruce den Titel des Films: The Wild and the Innocent. Als er diese Geschichte auch in den Gesichtern der Musiker widergespiegelt fand, die ihn von Ort zu Ort begleiteten, wurde sie für ihn noch reizvoller, noch lebendiger. »Da waren einfach so viele Typen um mich rum; jeder hatte einen Spitznamen. Ich bekam viel mit vom Leben auf der Straße und an der Uferpromenade«, sagte Bruce. »Meiner Heimat verdanke ich viele Inspirationen … Keine Frage: New Jersey ist wirklich interessant. Ich fand, dass meine kleine Stadt einiges zu bieten hatte, und die Menschen, die dort lebten, ebenfalls. Jeder trug seinen Teil zum E Street Shuffle bei, jenem Tanz, bei dem jeder Tag für Tag mittanzen muss, um am Leben zu bleiben. Ein ziemlich interessanter Tanz, wie ich finde, aber wie soll man darüber schreiben? Ich fand das alles sehr spannend, aber ich wollte vor allem meine Geschichte erzählen, nicht die von jemand anderem.«
Die Aufnahmen zu Bruce’ zweitem Album begannen Mitte Mai und fanden wieder in den 914 Sound Studios statt. Weil die Konzerte von größter Bedeutung für die Einnahmesituation der Band waren, wurde die Aufnahmesession in etliche Kurztermine aufgeteilt, die sich bis Ende September hinzogen. Die Kurzsessions fanden oft erst nach Mitternacht statt, worüber Hammond sehr erbost war, weil er annahm, dass ihn Appel auf diese Weise von den Aufnahmen fernhalten wollte. Tatsächlich aber hatte man mit dem Cheftontechniker Louis Lahav einen Deal ausgehandelt, demzufolge die Band das Studio kostenlos nutzen durfte, sobald Brooks Arthur, der Besitzer des Studios, nach Hause gefahren war. Das funktionierte auch lange Zeit reibungslos, bis Arthur eines Nachts zufällig auftauchte und sofort begriff, was in seinem Studio vor sich ging. »Er war nicht gerade begeistert, um es mal vorsichtig auszudrücken«, sagt Tallent.
Mit einem möglichst geringen Budget auszukommen, war der Band längst in Fleisch und Blut übergegangen. Während Bruce und der Rest der Band tagtäglich die zweistündige Fahrt von und nach Blauvelt auf sich nahmen, campierten Lopez und Federici in einem Zelt auf dem Parkplatz vor dem Studio. Bruce bat David Sancious, der von Richmond die Nase voll hatte und zurück zu seiner Mutter nach Belmar, New Jersey, gezogen war, wieder als Pianist bei der Band einzusteigen. Das bedeutete, dass Federici von nun an nur noch Orgel, Akkordeon und gelegentlich ein paar Keyboardparts spielte. Das Phantom fühlte sich zurückgesetzt, zumal sein jüngerer Kollege begann, sich wie ein Vorgesetzter aufzuspielen. »Er kam zu mir und meinte: ›Du sollst nicht das hier spielen, sondern das da‹«, erzählte Federici 1990 dem Journalisten Robert Santelli. »Das ging mir schon gehörig gegen den Strich. Unser Verhältnis war daher nicht sonderlich harmonisch.« Ihrer Band und ihrem Bandleader waren beide jedoch treu ergeben.
Bruce kam mit einer langen Liste von Songs für das neue Album ins Studio; etliche davon waren bereits monatelang live gespielt und immer wieder verbessert worden, sodass sie ziemlich ausgereift waren. Als der Greetings -Nachfolger langsam Gestalt annahm, wurden jedoch viele
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