Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)
wissen Sie? So unter Kumpels. So hat’s Erden ja auch eingeleitet: Darf ich dir meinen guten Freund Volker vorstellen, er wollte dich auch gerne mal kennenlernen. Und darum dachte ich, ich könnte einfach schnell verschwinden, ich wollte sogar noch meine Tasche holen.« Sie schüttelte den Kopf. »Und dann ist das dicke Schwein hinter mir her – unglaublich!«
»War außer Ihnen, Erden und dem Dicken noch jemand in der Wohnung?«
»Nein, wieso?«
»Nur so, Routinefrage.«
»Was ist mit dem Dicken?«
»Er hat was am Herzen. Die Kollegen rufen gerade den Krankenwagen.«
»Hoffentlich verreckt er!«
»Hm. Und Erden?«
»Was ›und Erden‹?«
»Soll der auch verrecken?«
Sie zögerte, öffnete den Mund, betrachtete mich forschend, bis ihre Gedanken abzuschweifen schienen und ihr Blick nur noch wie zufällig auf mir liegen blieb.
»Ich weiß nicht. Es ist so…« Sie hielt inne, befühlte mit den Fingerspitzen vorsichtig ihre Lippen. »Bis vorhin waren wir noch befreundet.« Einen Augenblick sah es so aus, als müsste sie weinen, doch dann seufzte sie nur verzweifelt. »Wir hatten Spaß, ich kann’s nicht anders sagen.«
»Hm-hm.«
Sie stellte den Blick wieder scharf. »Nicht so, wie Sie denken. Sehen Sie, Erden ist Fotograf. Darum ging’s zwischen uns vor allem. Um Kunst. Er macht tolle Fotos, politische Fotos. Eine Serie heißt ›Frankfurt im Schatten der Bankentürme‹. Nur Porträts von kaputten, verlebten Gesichtern, dabei voller Schönheit. Das waren mal ganz andere Bilder von Frankfurt…« Sie zögerte und fügte dann altklug hinzu: »Der Stadt der Anzugmännchen und Roastbeef-Sandwiches.«
»Hat Erden das so gesagt?«
»Nein, mein Vater.«
»Über was haben Sie noch geredet?«
»Was weiß ich, alles Mögliche: Musik, Hip-Hop, wo wir herkommen, was unsere Eltern machen, welche Filme wir mögen. Zum Beispiel – und wenn ich jetzt dran denke, ich fass es nicht –, wir haben zusammen Der englische Patient geguckt, und er hat gesagt, das sei einer seiner Lieblingsfilme. Kennen Sie den?«
Ich kannte von dem Film etwa zehn Minuten, dann war ich neben Deborah auf der Couch eingeschlafen. »Ich glaube nicht.«
»Eine total romantische Liebesgeschichte! Stellen Sie sich mal vor: Und dann das hier!«
»Sie sagten, bis vorhin waren Sie befreundet.«
Sie zögerte, ihr Blick wurde misstrauisch.
»Ja?«
»Waren Sie ein Paar?«
Eine Pause entstand. Sie sah auf das Bettlaken vor sich. Nach einer Weile sagte sie: »Ich möchte jetzt duschen.«
»Okay, dann lass ich Sie allein. Sie wissen ja, wo alles ist. Ich guck inzwischen, wie weit die Kollegen mit dem Dicken und Abakay sind.«
Sie schaute auf. »Ich will ihn jetzt nicht sehen.«
»Natürlich nicht. Keine Sorge, wahrscheinlich haben ihn die Kollegen schon abgeführt.« Ich nickte ihr zu. »Rufen Sie mich, wenn Sie fertig sind.«
Sie sah mir zu, wie ich zur Tür ging.
»Sagen Sie…«
Ich drehte mich um. »Ja?«
»Werden meine Eltern hiervon erfahren?«
Ich schüttelte den Kopf. »Ich glaube nicht, dass Sie als Zeugin gebraucht werden. Wirklich passiert – tut mir leid, aber so muss ich’s vom rechtlichen Standpunkt aus sagen – ist Ihnen ja nichts, und es gibt genug andere Zeuginnen.«
»Sie meinen, es gab andere Mädchen vor mir?«, fragte sie, und ich hatte den unangenehmen Eindruck, dass sie gerne das einzige gewesen wäre.
»Frau de Chavannes, falls Ihnen das noch nicht ganz klar sein sollte: Abakay ist Zuhälter. Und wenn die Mädchen nicht wollten, hat er sie mit Heroin vollgepumpt. Vergessen Sie die ›Kunst‹ und ›romantische Liebesfilme‹. Sie haben gerade noch mal Glück gehabt.«
Und mit dieser kleinen Standpauke ließ ich sie allein. Abakay, Abakay, dachte ich auf dem Weg durch den Flur, du hast den Bogen raus: Bisschen Sozialkitsch, Pissgetränke, öde Filme und ordentlich viel Klunker an den Fingern, und schon läuft das mit den Weibern! Und ich fragte mich, ob Valerie de Chavannes nach ein, zwei Gläschen Aperol auch schon mal in der weißen Satinbettwäsche gelandet war.
Als ich zum Eingangsflur kam, stand Abakays Mund offen, er stöhnte und war offenbar kurz vorm Aufwachen. Ich schlug ihm noch mal mit der Pistole gegen den Kopf, dann durchsuchte ich seine Taschen. In der Hosentasche fand ich tausendzweihundert Euro in Hunderter- und Zweihunderter-Scheinen, dazu ein paar Zehner und Fünfer. Vermutlich waren es eine Stunde zuvor noch genau tausendfünfhundert gewesen. Vielleicht hatte Abakay Marieke als
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