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Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)

Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)

Titel: Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jakob Arjouni
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wünschte. Ich hatte allerhand zu verlieren, und das wog schwerer als der Unterschied, ob Abakay nun zwei oder fünf Jahre Knast bekam.
    Darum wollte ich es vorerst vermeiden, mit Octavian und seinen Beamten gesehen zu werden. Noch konnte ich meine Rolle in dem Fall einfach abstreiten.
    Ich beschloss, die Kellnerbefragung wegen des Schaschlikspießes und das Abholen meines Fahrrads auf den Abend zu verschieben. Stattdessen ging ich zu Fuß durchs Westend, das Bahnhofsviertel und die Herbstsonne zu meinem Büro, stieg in meinen neuen alten Opel Astra und fuhr zum Stadion am Brentanobad. Dort begann um vier ein U-15Mädchenfußballspiel des 1. FFC Frankfurt, bei dem Deborahs Nichte Hanna in der Verteidigung stand.
    7
     
    Deborah hieß eigentlich Helga, den Künstlernamen hatte sie sich als Table-Dancerin zugelegt und als Hure beibehalten. Deborah war der Name ihrer Großmutter. Auf meine Frage, warum sie sich fürs Strippen ausgerechnet den Namen einer ihr, wie ich wusste, teuren und nahen Verwandten ausgesucht hatte, war Deborahs Antwort gewesen: »Eben weil ich sie sehr mochte und sie nichts dagegen gehabt hätte. So war sie in gewisser Weise immer bei mir. Ich war neunzehn, als ich in Frankfurt anfing, das war nicht immer einfach, da brauchte ich jemanden.«
    Deborah stammte aus dem Tausend-Einwohner-Dorf Henningsbostel in der Nähe von Bremen und war als Achtzehnjährige einem jungen Mann namens Jörn fünfzehn Kilometer weiter nach Klein Bremstedt gefolgt. Jörn sollte und wollte irgendwann die Tierfutterfabrik seines Vaters übernehmen. Nach zwei Monaten in der Dachgeschoss-Gästewohnung von Jörns Eltern wusste Deborah, dass sie mehr vom Leben erwartete als Futtermittelgestank und Fernsehabende mit den zukünftigen Schwiegereltern, und packte ihren Rucksack. Erst mal bekam sie weniger, nämlich einen Kassiererinnenjob bei Aldi im fünf Kilometer entfernten Jösters. Bis sie irgendwann erneut den Rucksack packte und lostrampte, als Ziel irgendeine Stadt mit Universität. Zwar hatte sie kein Abitur und konnte darum nicht studieren, aber sie dachte sich, in einer Universitätsstadt gibt es viele junge Leute, irgendwas wird sich schon ergeben. Eigentlich hatte sie an Bremen, Hamburg oder Hannover gedacht, doch dann nahm eine Lehrerfamilie mit Wohnmobil sie von der Raststätte Oyten direkt bis nach Frankfurt mit, und weil Deborah zwar einerseits mehr vom Leben erwartete, andererseits aber von genügsamem norddeutschem Wesen war, gab sie sich mit dem neuen Ort zufrieden, obwohl sie von Frankfurt bis dahin nichts kannte als den Namen. Eine Weile wohnte sie bei den Lehrern, passte auf deren zwei kleine Kinder auf, begann als Kellnerin zu arbeiten, zog in eine Wohngemeinschaft, bis sie irgendwann beschloss, genug Geld zu verdienen, um in Henningsbostel eine Espresso- und Sandwichbar aufzumachen. Eltern, Freunde und das flache Land fehlten ihr, Frankfurt zeigte sich immer mehr als großes, kaltes Monster, und Espresso – richtigen Espresso, nicht die bittere Plörre, die damals auch schon in Jösters oder Oyten aus den Kneipenautomaten lief – hatte sie im Café Wacker am Kornmarkt kennen- und lieben gelernt. Überhaupt war sie für die Gastronomie bestimmt. Wenig im Leben machte ihr mehr Spaß als essen, und wenig machte mir bis heute mehr Spaß, als ihr dabei zuzusehen. Sie aß wie eine Kuh – langsam, genüsslich, durch nichts aus der Ruhe zu bringen. Wenn sie in ihrer Weinstube am Herd stand und Bohnensuppe oder Lammgulasch kochte, hatte man das Gefühl, sie würde sämtliche Gäste am liebsten vor die Tür setzen und den Topf in Begleitung einer Flasche kühlen Rotweins in Ruhe alleine leer essen.
    Mit der Zeit verblasste die Sehnsucht nach Henningsbostel, und Frankfurt wurde trotz Hurenarbeit zur neuen Heimat. Dabei half ihr der unveränderte Traum von der eigenen Gaststätte über viele mühsame bis unangenehme Arbeitstage und -nächte hinweg. In ihrer Freizeit probierte sie Restaurants aus, ging zu Weinproben, belegte Kochkurse. Wir wurden immer mehr ein Paar, und ich war froh, als sie nach einem Jahr im ›Mister Happy‹genug Startkapital beisammen hatte, um die Hurenarbeit sein lassen und in Bornheim Kneipenräume anmieten zu können. ›Deborahs Naturweinstube‹ mit einfachem Essen und leichten, frischen Weinen wurde schnell ein Erfolg. Bald konnte sie es sich leisten, ihre frischgeschiedene ältere Schwester Tine samt Tochter Hanna aus Henningsbostel nach Frankfurt kommen zu lassen. Inzwischen arbeitete

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