Bruder Kemal: Ein Kayankaya-Roman (German Edition)
erst auf der Buchmesse begann. Dass Rashid auf der Toilette Gefahr drohte, hielt ich für ausgeschlossen.
Ich trank einen Schluck Wasser und wandte mich an Katja Lipschitz. Sie saß unverändert angespannt im Sessel, die Finger in die Lehnen gekrallt, den Blick zu Boden gerichtet.
»War das sensibel genug?«
Sie sah auf und musterte mich, als frage sie sich – und zwar genau in diesen für sie ungewohnten, aber nun einzig befriedigenden Worten –, welche verfluchte Hure mich auf die Welt gebracht hatte? Dann sagte sie: »Sie wissen ganz genau, dass Sie entlassen wären, wenn es eine Möglichkeit gäbe, in der nächsten halben Stunde Ersatz für Sie zu finden. Was fällt Ihnen ein, so mit unserem Autor umzuspringen?!«
»Was fällt Ihrem Autor ein, mich zu duzen und zu behandeln wie einen Trottel? ›Mein Beschützer‹!«
»Das war ein Zeichen der Zuneigung!«
»Er kannte mich doch gar nicht. Zuneigung zu was? Zum Orientalen?«
Sie holte tief Luft. »Vielleicht habe ich das bei unserem letzten Treffen nicht deutlich genug gemacht: Malik Rashid ist ein großer, phantastischer, weltweit anerkannter und gefeierter, ganz besonderer Autor. Wenn Ihnen sein Verhalten oder seine Art nicht immer gleich nachvollziehbar erscheint, dann mag das daran liegen, dass Sie nur selten mit Künstlern und Intellektuellen zu tun haben.«
Ich erinnerte mich an Valerie de Chavannes’ Worte bezüglich ihres Mannes: »Nun, vielleicht erlaubt Ihnen Ihr Beruf nicht allzu viele Erfahrungen mit Leuten, deren Haltung zum Leben nicht den üblichen Gesetzmäßigkeiten folgt.« Offenbar wirkte ich auf die Damen des gehobenen Frankfurter Mittelstands nicht gerade als Mann von Welt.
Katja Lipschitz fuhr fort: »Die Gedankengänge bei kreativen Geistern sind oft verschlungener und ihr öffentliches Betragen manchmal kantiger, ungelenker als bei unsereinem. Weil sie zu viel nachdenken!«
Was man von Ihnen weiß Gott nicht behaupten kann, sagte ihr Blick.
»Weil sie die Dinge in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen versuchen! Und sie dadurch mitunter auch komplizierter machen, als sie tatsächlich sind. Ich bin sicher, Malik hat sich viele und ernsthafte Gedanken gemacht, wie er Ihnen begegnen soll. Wissen Sie, was er mir vor zwei Tagen am Telefon gesagt hat?«
Ich antwortete nicht, mir fiel nichts Sensibles ein.
»Wie unangenehm ihm die Situation sei! Einem erwachsenen Mann Anweisungen bezüglich intimster Angelegenheiten zu geben. Zum Beispiel, dass er gleich auf die Toilette begleitet werden müsse. Oder andersrum, von Ihnen Anweisungen zu erhalten. Dass er nicht irgendwohin gehen oder irgendwas nicht machen dürfe. Wahrscheinlich hat er hundertmal hin und her überlegt, was die Situation mehr entspannt: ein seriöses ›Sie‹ oder ein freundschaftliches ›Du‹.«
»Sie hätten ihm verraten sollen, dass man ein ›Du‹ unter Erwachsenen anbietet.«
»Jetzt tun Sie mal bloß nicht so etepetete!«
»Sie meinen, als Orientale…«
»Ach!«
Sie beugte sich wütend vor, nahm ihren Kaffee und verschwand wie Rashid hinter einem Milchschaumberg.
»Tja«, sagte ich, »ich denke, soweit hätten wir dann alles geklärt.«
Katja Lipschitz blieb hinter dem Milchschaum verborgen.
»Bleibt mir nur noch, auf gute Zusammenarbeit zu hoffen.« Ich hob mein Wasserglas: »Auf drei möglichst ereignislose Tage.«
Sie ließ die Tasse so weit sinken, dass wir uns in die Augen sehen konnten. »Machen Sie bitte einfach nur so gut wie möglich Ihre Arbeit. Die Situation ist, wie sie ist, und Malik Rashid ist Malik Rashid. Ich bin sicher, Sie sind Profi genug, das ab jetzt zu akzeptieren. Wenn es noch mal Unstimmigkeiten oder vermeintliche Probleme geben sollte oder sonst irgendwas, was Sie loswerden wollen, wenden Sie sich bitte direkt an mich. Ich bin in den nächsten drei Tagen Ihr Ansprechpartner – und zwar nur ich. Malik braucht seine Kraft für die Messe, und kommen Sie bloß nicht auf die Idee, unsere Verlagsmitarbeiter zu…«
Sie suchte nach dem passenden Wort. Ich half ihr: »Zu behelligen?«
Sie nahm einen Schluck Kaffee. »Sie wissen, was ich meine.«
»Keine Sorge. Ich werde mich so unsichtbar wie möglich machen.«
»Gut, Herr Kayankaya, das freut mich.«
Sie stellte den Cappuccinobecher ab und sagte: »Entschuldigen Sie mich, es ist Messezeit, ich habe zu tun.« Dann tippte sie eine SMS in ihr iPhone und checkte E-Mails. Die Zeit verging, Rashid blieb verschwunden. Ich fragte mich, ob er unter Durchfall litt, und stellte mir
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