Bruderherz
wieder in seine Tasche, holte den Schlüssel für das Fußeisen heraus und ließ ihn über den Boden in meine Richtung gleiten. »Du kannst mein Messer benutzen«, sagte er. »Ich hol mir das Herz dann später hier ab. Verpfusch es nicht. Du musst die Rippen zersägen. Das ist der einzige Weg, wie du es rauskriegst. Leg sie auf eine der Plastikplanen, die dort in der Ecke liegen. Sonst schrubbst du hier nämlich noch bis Weihnachten den Boden.«
Meine Stimme versagte fast, als ich sagte: »Orson, ich kann nicht…«
»Du hast vier Stunden Zeit. Wenn du nicht fertig bist, bis ich wiederkomme, spielen wir wieder unser kleines Spiel, aber dann mit drei Patronen.«
Er öffnete die Hintertür, und ich sah, dass sich der Himmel langsam violett verfärbte. Ich hatte nicht das Gefühl, als ob die Morgendämmerung schon anbräche. Ich hatte nicht das Gefühl, als könnte es je wieder eine Morgendämmerung geben.
Orson machte die Tür zu und schloss sie ab. Ich spürte den Schlüssel in meiner Hand, aber ich wollte angekettet bleiben. Wie könnte ich Shirley berühren? Sie lag auf dem kalten, harten Boden und starrte mich aus diesen offenen, doch leeren, gütigen Augen an. Ich war froh, dass sie tot war. Froh für sie.
Kapitel 9
Das ist sehr wohl ein menschliches Wesen. Vor ein paar Stunden war sie noch mit ihrer Familie auf der Bowlingbahn. Ich beugte mich vor und küsste ihre Stirn. »Es tut mir Leid«, flüsterte ich. »Du hast nicht…« Hör auf. Das wird dir jetzt auch nicht helfen. Es gab nichts, was du hättest tun können, um sie zu retten; nichts, was du tun könntest, um sie wieder lebendig zu machen. Ich war Zeuge des Bösen in seiner reinsten Form geworden – der mentalen Folterung einer Frau, und ich weinte hemmungslos. Als ich keine Tränen mehr hatte, richtete ich mich auf, wischte mir die Augen und begann mit der Arbeit.
Vor Jahren, als ich noch Zeit hatte, in den Bergen North Carolinas zu jagen, habe ich anschließend das in den Wäldern erlegte Wild neben meiner Berghütte ausgenommen. Das hier ist nicht anders. Es unterscheidet sich jetzt nicht mehr von einem Tier. Sie fühlt nichts. Tot ist tot, egal wer oder was.
Die Arbeit war schwierig, vor allem das Zersägen der Rippen. Doch wenn man schon mal einem großen Tier ein Organ entnommen hat, kann man es auch bei einem anderen. Was die Aufgabe so schwierig machte, war ihr Gesicht. Ich konnte es nicht ansehen, daher zog ich ihr das Bowlinghemd über den Kopf.
Die aufgehende Sonne erwärmte die Scheune schnell, und schon bald war es so unerträglich heiß, dass ich nur noch an das eiskalte Wasser vom Brunnen denken konnte. Mein Durst trieb die Arbeit voran, und als ich hörte, dass die Tür lange vor Ablauf der vier Stunden aufgeschlossen wurde, war meine Aufgabe beinah vollbracht. Orson trug immer noch seinen Arbeitsoverall, als er hereinkam. Durch die offene Tür blendete mich bereits die Morgensonne. Es würde wieder ein strahlender Tag unter blauem Himmel werden. Bevor Orson die Tür schloss, wehte eine leichte Brise herein, die sich wunderbar anfühlte.
»Lächeln, Andy.« Er schoss ein Foto mit einer Sofortbildkamera. Ein merkwürdiges Gefühl, sich vorzustellen, dass der schlimmste Moment meines Lebens gerade auf ein Foto gebannt worden war.
Mein Bruder sah müde aus – in seinen Augen spiegelte sich melancholische Dunkelheit. Ich unterbrach meine Tätigkeit und legte das Messer ab. Da ich fast nur auf den Knien gearbeitet hatte, taten diese so weh, dass ich mich auf die blutige Plane setzte. Orson umkreiste die Leiche und begutachtete meine Arbeit.
»Ich dachte, du bist vielleicht durstig«, sagte er mit schwacher, erschöpfter Stimme. »Ich mache das hier fertig, es sei denn, du willst.«
Ich schüttelte den Kopf, während er in den zerstückelten Brustkorb starrte. »Keine schlechte Arbeit«, sagte er. »Du musst aufpassen, dass sich über dem Herz keine Knochenreste mehr befinden, sonst reißt es auseinander, wenn du es herausholst.« Er hob das Messer auf und wischte es an seiner Hose ab. »Geh und mach dich sauber.« Ich stand auf, aber er hinderte mich daran, über den Rand der Plane zu gehen. »Zieh deine Schuhe aus«, sagte er. Ich stand in einer Blutlache. »Wir werden diese Kleidung hier sowieso verbrennen, also zieh dich direkt hier aus. Ich kümmere mich darum.«
Ich zog meine Sachen aus und stapelte sie auf der Plane. Selbst meine Boxershorts und meine Socken hatten Flecken. Als ich nackt war, bemerkte ich, dass meine
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