Bruderherz
Sommer über bleiben. Nun, dem ist nicht so.« Ich setzte mich auf und stellte den Teller auf meinen Schoß. »Fühlst du dich besser?« Ich biss in das kalte Brot mit dem geräucherten Schinken und nickte. »Das dachte ich mir«, sagte er und ging zur Tür. Als er sie öffnete, wehte ein kühler Luftzug in mein Zimmer. »Ich schließe die Tür ab. Ich bringe dir im Laufe des Abends etwas zu essen. Das Einzige, worum ich dich bitte, ist, dass du gepackt hast, bevor du dich heute Abend schlafen legst.«
Als er weg war, schloss ich die Augen und sah Mücken über die Wasseroberfläche des Norman Lake schwirren, sah einen strahlend blauen Himmel, der vom lauen Wasser reflektiert wurde. Ich konnte die Pinien riechen, die reiche, lebendige Erde. Ich konnte das Spottdrosselgeschrei und Kindergelächter über den See schallen hören und ein Nachhall füllte die tote Luft der Hütte. Ich konnte all dies in einen Traum verwandeln. Ich bin noch nicht zu Hause. Ich schlug die Augen wieder auf, um die düstere Realität zu erblicken – Orsons Geräusche, wie er sich in der Hütte bewegte, und das Geprassel des Regens in der Wüste.
Tag 11
Ich schätze, es ist bald Mitternacht. Es regnet noch genauso, wie es den ganzen Tag geregnet hat, und Sturmwolken verdecken den Mond, daher ist die Wüste, wenn sie nicht kurz von Blitzen erhellt wird, unsichtbar. Den Blitzen folgt kein Donner. Das Zentrum des Unwetters ist Meilen entfernt.
Mein Seesack ist gepackt. Ich glaube, Orson wartet darauf, dass ich einschlafe. Ich habe während der letzten Stunde mehrfach seine Schritte vor meiner Tür gehört, als lausche er auf meine Bewegungen. Ich hin unruhig wie ein kleines Kind, vor allem da er heute den ganzen Tag so freundlich zu mir war. Doch erstaunlicherweise traue ich ihm. Ich kann es nicht erklären, aber ich glaube nicht, dass er mir wehtun wird, vor allem nicht seit letzter Nacht. Es hat ihn wirklich berührt.
Hoffentlich ist dies der letzte Eintrag, den ich je in dieser Hütte niederschreiben werde. Obwohl mir das Schreiben dieser Seiten geholfen hat, mir etwas von meinem Verstand und meiner Autonomie zu bewahren, habe ich nicht alles aufgeschrieben, was hier passiert ist. Der Grund dafür ist, dass ich versuche zu vergessen. Einige Menschen schaffen es, Jahre ihrer Kindheit auszublenden. Sie verbannen die Dinge in ihr Unterbewusstsein, so dass sie nur von Zeit zu Zeit an ihnen nagen, in kleinen, schmerzlosen Portionen.
Diese Vorstellung von Verdrängung ist mein Vorbild. Mein Ziel ist es, die unaussprechlichen Vorfälle der vergangenen elf Tage zu vergessen. Als Preis dafür nehme ich gerne in Kauf, in den nächsten Jahren immer mal wieder von Depressionen, Wutanfällen und Selbstverleugnung heimgesucht zu werden. Nichts kann so vernichtend sein wie die tatsächlichen Erinnerungen an das, was ich gesehen und getan habe.
Ich unterschrieb den Eintrag mit meinem Namen, riss die Seite aus dem Notizheft und faltete sie zusammen. Dann ging ich zu meinem Seesack und steckte sie zwischen meine dreckige Wäsche zu den anderen Einträgen, die ich dort aufbewahrte. Nachdem ich die Laterne auf dem Nachttisch gelöscht hatte, kroch ich unter die Decke. Der Regen auf dem Blechdach war wirksamer als eine Packung Schlaftabletten.
Ein Blitz durchzuckte die Finsternis und ich sah das Weiße von Orsons Augen. Er stand tropfnass in meinem Zimmer. Als der Himmel sich wieder verdunkelte, begann mein Puls zu rasen und ich setzte mich im Bett auf.
»Orson, du machst mir Angst.« Meine Stimme erhob sich über den prasselnden Regen.
»Bleib ganz ruhig«, sagte er. »Ich bin gekommen, um dir eine Spritze zu geben.«
»Mit was?«
»Etwas, was dir helfen wird zu schlafen. So wie in dem Motel.«
»Wie lange stehst du schon hier?«
»Eine ganze Weile. Ich habe dir beim Schlafen zugesehen, Andy.«
»Machst du bitte das Licht an?«
»Ich hab den Generator abgestellt.«
Mein Herz hörte nicht auf zu rasen, deshalb nahm ich ein Streichholzbriefchen vom Nachttisch und zündete die Öllaterne an. Als ich die Flamme hochdrehte und die Wände in warmes Licht getaucht wurden, verschwand die Panik in meinem Innern. Seine Jeans und sein grüner Poncho waren völlig durchnässt.
»Ich muss dir das geben«, erklärte er und zeigte mir die Spritze. »Es wird Zeit, dass wir verschwinden.«
»Ist das wirklich notwendig?«, fragte ich.
»Auf jeden Fall.« Er kam einen Schritt näher. »Zieh deinen Ärmel hoch.«
Ich zog den Ärmel des T-Shirts
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