Bruderherz
Jeff hinabblickte.
»Dieser Augenblick«, begann er, beendete den Satz jedoch nicht. Seine Augen funkelten glücklich. »Mein Gott, Andy!« Er trat neben mich und nahm mir die Waffe aus den Händen. Mit Tränen in den Augen umarmte er mich und strich mir über den Rücken. »Das ist Liebe, Wilbur«, erklärte er. »Verdammt echte Liebe.« Orson ließ mich los und wischte sich die Augen. »Du kannst jetzt gehen, wenn du willst, Andy«, sagte er. »Du darfst natürlich auch gern bleiben, aber ich schätze, dass du das hier nicht sehen willst. Ich werde dich nicht dazu zwingen.«
Während Orson Wilbur ansah, merkte ich, dass er in Gedanken schon nicht mehr bei dem war, was ich getan hatte. Die Beschäftigung mit seinem nächsten Opfer hatte nun Vorrang, seine Augen strahlten lüsterne Konzentration aus. Er ging durch den Raum und kam mit einem Schleifstein zurück. Dann setzte er sich auf den Betonboden und begann die Messerklinge an dem Stein zu wetzen, um sie wieder genauso rasiermesserscharf zu bekommen wie für Shirley Tanner. Du hast einen Menschen umgebracht. Nein, hör auf damit. Denk nicht nach.
»Bleibst du oder gehst du?«, fragte er und schaute zu mir auf.
»Ich gehe«, sagte ich und sah, wie Wilbur auf das Messer und den Schleifstein starrte. Ich überlegte, ob Orson wohl wieder die Messergeschichte erzählen würde, wenn ich weg war. Orson legte das Messer auf den Boden und brachte mich zur Tür. Nachdem er sie geöffnet hatte, trat ich erleichtert ins Freie. Wilbur reckte den Hals, um die Wüste zu sehen, was Orson nicht entging.
»Interessiert dich irgendetwas hier draußen, Wilbur?«, fragte er und drehte sich um, während ich noch auf der Schwelle stand. »Nun, schau nur hin«, sagte er. »Wirf einen letzten, langen Blick hinaus zu dem Nachthimmel, den Sternen und dem Mond, denn du wirst sie nie wieder sehen. Nie!«
Wilburs Augen glühten. Es schien, als habe er sich an die Kugel in seinem Bein gewöhnt.
»Zur Hölle mit dir!«, sagte er, offenbar in dem Versuch, Orson durch seinen gelassenen, überheblichen Tonfall zu beleidigen. »Und deiner Mutter, deinem Vater und, wenn du eine hast, deiner Frau und deinen…«
»Mein Vater ist tot, Wilbur«, erwiderte Orson ruhig.
»Zur Hölle mit seiner verwesenden Leiche!«
Orsons Gesichtsmuskeln zuckten und sein eisiger Blick wandte sich wieder mir zu. »Ich sehe dich morgen früh, Bruder.«
Er schlug mir die Tür vor der Nase zu und schloss sie von innen ab. Ich schleppte mich zur Hütte, während hinter mir das Geräusch des Messerwetzens immer leiser wurde.
Vor mir ragte der schwarze Klotz der Hütte finster in den nachtblauen Himmel empor. Das Mondlicht hatte die Wüste wieder in ein tiefes Blau getaucht. Ich dachte an mein ruhiges Zimmer dort drinnen. Ich würde heute Nacht schlafen. Diese überwältigende Ohnmacht war mein Rettungsboot.
Gerade als ich die vordere Veranda betrat und die Tür erreicht hatte, durchbrach der erste Schrei aus der Scheune die milde Nacht. Ich konnte den Schmerz, der ihn ausgelöst hatte, nicht ergründen, und während ich eintrat und die Tür hinter mir schloss, betete ich, dass die Wände der Hütte den Klang von Orsons Handwerk nicht bis an meine Ohren dringen lassen würden.
Kapitel 13
Am elften Tag verließ ich mein Zimmer nicht. Orson schlich sich nachmittags herein. Ich schlief jedoch nicht. Seit Tagesanbruch war ich wach. Er brachte mir ein Schinkenbrot und ein Glas Portwein und stellte beides auf den Nachttisch. Ich lag auf der Seite, das Gesicht zu ihm gewandt, und starrte ins Nichts. Die Mutlosigkeit, die ihn hinterher stets überfiel, spiegelte sich in seinem schwerfälligen Augenaufschlag und seiner matten Stimme wider.
»Andy«, sagte er, aber ich reagierte nicht. »Das gehört dazu. Die Depression. Aber du bist darauf vorbereitet.« Er kauerte sich hin und schaute mir in die Augen. »Ich kann dir da durchhelfen.«
Regentropfen schlugen auf das Blechdach. Ich musste aufstehen, um nach draußen zu sehen, doch das Licht, das mühsam durch das vergitterte Fenster hereinschien, hatte nichts vom Glanz eines Nachmittags in der Wüste. Sanft und grau kroch es in die Ecken. Der Terpentingeruch des nassen Beifußes parfümierte die Wüste und mein Zimmer.
»Ich bin jetzt mit dir durch«, erklärte er. »Du kannst nach Hause fahren.«
Ein Hoffnungsschimmer durchströmte mich und ich schaute ihm in die Augen.
»Wann?«
»Pack heute, fahr morgen ab. Ich weiß, dass ich dir gesagt habe, du würdest den
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