Bruderherz
Danke.«
Als ich das Buch zuklappte, applaudierten die Zuhörer. Adrian Phelps, die Inhaberin von 9th Street Books, erhob sich von ihrem Stuhl in der ersten Reihe. »Es ist neun Uhr«, sagte sie kaum hörbar und klopfte dabei auf ihre Uhr. Ich trat vom Lesepult zurück und die kleine, dünnlippige Frau mit dem kurzen, pechschwarzen Haar zog sich mit einer scherzhaften Drohgebärde das Mikrofon an den Mund.
»Leider ist unsere Zeit zu Ende«, erklärte sie den Zuhörern. »Dort vorne steht ein Ständer mit den Büchern von Mr Thomas. Er war so freundlich, fünfzig Exemplare seines neuen Romans zu signieren, die Sie käuflich erwerben können. Jetzt wollen wir ihn erst einmal mit einem großen Applaus verabschieden.« Sie drehte sich zu mir um, lächelte und begann zu klatschen. Die anderen Zuhörer fielen mit ein, und zehn Sekunden lang erbebte das alte Geschäft, die letzte Station meiner Lesereise durch zwölf Städte der Staaten, unter tosendem Beifall.
Nachdem sich die Menge allmählich aufgelöst und ein Teil des Publikums den Laden verlassen hatte, erhob sich meine Agentin Cynthia Mathis von ihrem Stuhl und kam über die abgetretenen Holzdielen auf mich zu. Ich wich einem Autogrammjäger aus und ging ihr entgegen.
»Du hast dich heute Abend selbst übertroffen, Andy«, sagte sie, während wir uns umarmten. Mit ihrem nach Flieder duftenden Parfüm verkörperte Cynthia sämtliche Qualitäten einer eleganten, erfolgreichen New Yorker Geschäftsfrau. Trotz ihrer fünfzig Jahre sah sie aus, als wäre sie gerade erst vierzig geworden. Ihr langes, langsam ergrauendes Haar war straff nach hinten zu einem Knoten gekämmt. Ein Hauch Puder ließ ihre hübschen Wangen noch weicher erscheinen, ein überraschender Kontrast zu ihrem strengen, schwarzen Hosenanzug.
»Schön, dich zu sehen«, sagte ich, während wir uns von den anderen entfernten. Seit ich mit dem Schreiben von »Die Angst, zu leben« vor zehn Monaten begonnen hatte, hatte ich Cynthia nicht mehr gesehen, daher war es ein merkwürdiges Gefühl, mit ihr wieder von Angesicht zu Angesicht zu sprechen.
»Ich habe uns einen Tisch im Il Piazza bestellt«, erklärte sie.
»Gott sei Dank, ich verhungere nämlich.« Doch noch umringten uns mindestens fünfzig Menschen, die auf ein persönliches Autogramm und ein paar Sekunden Smalltalk warteten. Die Türen der Buchhandlung, die zu meinem verdienten Dinner führten, schienen meilenweit entfernt, aber dann machte ich mir klar, dass dies hier genau das war, was ich liebte und wofür ich so hart gearbeitet hatte. Also setzte ich ein gewinnendes Lächeln auf, holte tief Luft und ging in die übrig gebliebene Menge hinein in der Hoffnung, ihr Interesse würde von kurzer Dauer sein.
Während der große italienische Sommelier mir auf mein Nicken hin etwas Wein einschenkte, reichte er mir den rubinrot gefleckten Korken und ich prüfte seine Feuchtigkeit. Ich schwenkte das Glas, trank einen Schluck, und als ich erneut nickte, wurden unsere beiden Gläser mit einem dunkelbernsteinfarbenen Latour gefüllt, der vierzehn Jahre auf diesen Moment gewartet hatte.
Nachdem der Weinkellner gegangen war, beschrieb uns ein anderer Kellner die Auswahl der verschiedenen Gerichte bis ins kleinste Detail. Dann reichte er uns zwei burgunderfarbene Speisekarten. Während ich mühsam die italienischen Speisenamen las, nippte ich an meinem samtigen Wein und dachte an die dunklen Trauben, die erst auf dem Land in Frankreich gereift und dann in unterirdischen Kellern gelagert worden waren.
Die Lichter der unter uns liegenden Stadt sorgten für eine gelassene, glitzernde Atmosphäre im Il Piazza. Das Restaurant belegte eine Ecke der 35sten Etage des Parker-Lewis-Gebäudes, so dass die besten Tische außen an den beiden Fensterseiten platziert waren, wo man einen fantastischen Blick hinab auf die Stadt hatte. Wir saßen an einem dieser von Kerzenschein beleuchteten Tische, und ich starrte auf den East River, der tief unter uns unter der Brooklyn Bridge hindurchfloss. Mein Blick folgte den Lichtern eines Lastkahns, der flussaufwärts gegen den schwarzen Strom schwamm.
»Du siehst müde aus«, sagte Cynthia.
Ich blickte auf. »Eigentlich mochte ich Lesereisen immer, aber mittlerweile strengen sie mich ziemlich an. Ich wäre am liebsten zu Hause.«
»Andy«, sagte sie, und dem Ernst ihrer Stimme konnte ich entnehmen, was nun kam. Ich kannte Cynthia gut genug, um zu wissen, dass mein Verschwinden im Mai ihren Glauben an mich erschüttert
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