Bruderherz
über die Schulter und wandte den Kopf ab, als Orson die Nadel in meinen Arm einführte. Ein kurzer, stechender Schmerz, aber ich fühlte schon nichts mehr, als die Nadel herausgezogen wurde. Als ich wieder zu Orson blickte, sah ich das Zimmer verschwommen und mein Kopf fiel unfreiwillig auf das Kissen zurück.
»Du hast jetzt nicht viel Zeit«, sagte Orson, während meine Lider schwer wurden. Seine Stimme klang so weit entfernt wie das Donnergrollen. »Wenn du aufwachst, wirst du dich wieder in einem Motelzimmer in Denver befinden mit einem Flugticket auf dem Nachttisch und dem .357er in deinem Seesack. Dann weißt du, dass die Beweise, die ich gegen dich in der Hand habe, in meinem Besitz an einem sicheren Ort sind. Du hast deinen Teil der Abmachung eingehalten. Ich werde meinen einhalten.
Ich glaube zwar, dass wir in unserer Beziehung dieses Stadium längst hinter uns haben, dennoch möchte ich dich noch einmal eindrücklich davor warnen, irgendjemandem zu erzählen, was du gemacht hast oder wo du glaubst gewesen zu sein. Sprich nicht über mich, über Shirley Tanner oder Wilbur und die Jungs. Du warst die ganze Zeit auf Aruba und hast dich erholt. Und verschwende bloß keine Energie darauf, hierher zurückzukommen, um nach mir zu suchen. Vielleicht ist es dir gelungen, den Standort der Hütte zu lokalisieren, aber ich kann dir versichern, dass ich diese Wüste mit dir verlassen werde.
In den kommenden Monaten passieren vielleicht Dinge, die du nicht verstehen wirst, die du dir nicht einmal im Traum ausgemalt hättest. Aber Andy, vergiss das nie: Alles, was geschieht, geschieht aus einem bestimmten Grund, und diesen Grund kontrolliere ich. Hege niemals auch nur den geringsten Zweifel daran.
Du wirst mich Wiedersehen, aber das wird eine Weile dauern. Lebe dein Leben weiter, so wie vorher. Schuldgefühle werden dich überkommen, aber du musst sie verdrängen. Schreib deine Bücher, genieße deinen Erfolg, aber behalte mich im Gedächtnis.«
Sein Gesicht verschwamm, dennoch meinte ich ihn lächeln zu sehen. Das Geräusch des Regens war verschwunden und ich konnte selbst Orsons eloquentes, leises Geflüster kaum noch verstehen.
»Du bist schon fast weg«, sagte er. »Das sehe ich an deinen Augenlidern. Ich möchte dir zum Abschied etwas mitgeben, bevor du ganz in die selige Bewusstlosigkeit fällst.
Ich weiß, dass du Gedichte liebst. In deinem ersten Collegejahr hast du dich mit Robert Frost beschäftigt. Ich habe ihn damals gehasst, heute liebe ich ihn. Besonders ein bestimmtes Gedicht von ihm. Es wird bei Abschlussfeiern rezitiert und in Jahrbüchern abgedruckt, und obwohl alle das Gleiche tun, schwört jeder auf Einzigartigkeit, denn jeder liebt ja dieses Gedicht. So, von mir aus gibt es jetzt nichts mehr zu sagen und Bob wird dich in den Schlaf wiegen.«
Meine Augen fielen zu und ich hätte sie, selbst wenn ich es gewollt hätte, nicht mehr öffnen können. Orsons Stimme drang noch zu meinen Ohren durch, doch die letzte Zeile erreichte mich nicht mehr. Während mich die Droge endgültig übermannte, dachte ich noch, dass »Der Weg, den ich nicht nahm« unbestritten ihm gehörte.
»›Ein Weg ward zwei im gelben Wald. Betrübt, dass ich nicht beide gehen und einer sein kann, macht’ ich Halt und sah dem einen nach, der bald im Dickicht war nicht mehr zu sehn.
Ich nahm darauf… den anderen dann. Sein gutes Recht gewährt’ ich ihm: Das Gras stand dort… durch der Leute Gang genauso ausgetreten schien.
Auf beiden… das Laub von Tritten nicht zerdrückt…‹«
Zweiter Teil
Kapitel 14
Auf einer Fläche nicht größer als ein kleines Café drängte sich eine unglaubliche Menschenmenge. Ich war verwundert, wie viele Menschen in die Buchhandlung 9th Street Books hineinpassten. Es war einer dieser aussterbenden, vom Eigentümer selbst geführten Buchläden, der nicht von irgendeiner großen Kette aufgekauft worden war, und nicht weiträumiger als die Bibliothek einer Villa. Immerhin gab es eine erste Etage, auch wenn diese nur aus weiteren Regalen und einer kleinen Balustrade bestand, wo die Kunden in drei Meter Höhe auf einem Laufsteg im Kreis an den schier endlosen Reihen edler Bücher vorbeigeführt wurden.
Ich setzte meine goldgeränderte Brille ab, kaute auf dem Gummiende eines Bügels herum, beugte mich vor und las, den Ellbogen auf dem hölzernen Lesepult aufgestützt, den letzten Satz aus »Die Angst, zu leben«. »›Sizzle starb und fuhr glücklich zur Hölle.‹
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