Brudermord
zu finden, zu jenem Abend vor vierundzwanzig Jahren. »Waren Sie gut befreundet?«, begann sie schließlich und goss sich noch ein wenig Milch in den Tee.
Die Frau zuckte mit den Schultern, und ihr Lächeln verschwand. »Ach Gott, was heißt befreundet? Das war eine verrückte Zeit damals. Wir waren alle verrückt, und Ruth war die schlimmste von uns allen.«
»Würden Sie sagen, sie war krank?«, wollte Clara wissen.
Liselotte Winter maß sie mit einem langen Blick. »Ich würde sagen, sie war sehr talentiert. Vielleicht zu sehr.«
»Hat es Sie nicht gewundert, dass sie nach dem Tod von Udo Reimers in eine Klinik anstatt ins Gefängnis kam?«, hakte Clara nach.
Die Frage war Frau Winter sichtlich unangenehm. Ihr Gesicht verdüsterte sich, und sie streichelte die Katze so heftig, dass diese mit einem beleidigten Maunzen von ihrem Schoß heruntersprang. »Warum interessiert Sie das? Was hat das mit heute zu tun?«, gab sie unwillig zurück, und als Clara nicht antwortete, meinte sie nach einer Weile seufzend: »Ich weiß, wir hätten uns da nicht raushalten sollen, jetzt weiß ich das. Aber damals … wir waren alle so jung. Es hat mich schockiert, als ich gehört habe, was in dieser Nacht passiert ist. Es hat mir Angst gemacht. Ich wollte nichts damit zu tun haben …« Sie hob die Hände zu einer hilflosen Geste. »Und dann ist das auch mit meinem Unfall passiert, mein Freund und ich sind mit dem Motorrad gestürzt, kein halbes Jahr später war das, und ich hatte plötzlich ganz andere Sorgen …«
»Niemand macht Ihnen einen Vorwurf«, sagte Clara, doch während sie es sagte, spürte sie, dass es nicht stimmte. Es machte sie wütend. Warum hatte sich, verdammt noch mal, niemand für Ruths Schicksal interessiert?
Clara fragte sich plötzlich, wie es wäre, wenn sie aus irgendeinem Grund in eine Klinik wie Schloss Hoheneck käme. Bei ihr wäre es anders. Sie wäre nicht allein. Sie hätte ihre Familie und Willi und natürlich Mick, und alle würden versuchen, ihr zu helfen, sie würden sie besuchen … Ganz sicher. Aber wie lange? Ein paar Monate? Ein Jahr? Sie spürte, wie sie zu zweifeln begann, und schob diese beunruhigenden Gedanken rasch auf die Seite. Das konnte man nicht miteinander vergleichen. In keiner Weise.
»Aber Ruths Geliebter? Warum hat er sich denn nicht für sie eingesetzt?«, wollte Clara wissen.
»Ihr Geliebter ? Sie meinen Pablo?« Lieselotte Winter schüttelte den Kopf und nahm etwas aus dem Regal neben sich. Einen Aschenbecher und ein langes schwarzes Ding, das wie eine Pfeife aussah. »Stört es Sie, wenn ich rauche?«, fragte sie und begann schon, mit der Pfeife zu hantieren.
Clara schüttelte den Kopf. »Ich rauche selbst.«
Lieselotte Winter machte eine einladende Handbewegung. »Nur zu.«
Doch Clara stand jetzt nicht der Sinn nach einer Rauchpause. Es gab einen Namen. Sie musste ihn festhalten. »Pablo?«, fragte sie nach. »War das Ruths Freund?«
Lieselotte Winter nickte. »Nicht offiziell anfangs. Sie haben es geheim gehalten. Mehr recht als schlecht. Wegen Udo.«
»Udo Reimers«, ordnete Clara die Information ein, um keine Missverständnisse aufkommen zu lassen. »War er eifersüchtig?«
»Ach Gott, der Udo, der war nicht einmal wirklich Ruths Freund. Das hätte er gern gehabt. Sie hat ein paarmal mit ihm rumgemacht, wie das eben so war …« Sie zündete sich ihre Pfeife an und nahm einen bedächtigen Zug.
Clara betrachtete sie fasziniert. Sie hatte noch nie eine Frau Pfeife rauchen sehen. Sie hatte auch noch nie so eine Pfeife gesehen. Sie war lang und gebogen, mit einem dünnen Hals und einem kleinen schwarzen Kopf. Es sah sehr elegant aus.
Ein süßlicher Geruch breitete sich aus, der Clara bekannt vorkam. Sie schnupperte verstohlen. Das konnte doch nicht wahr sein. »Ist das, was Sie da rauchen …äh…« Sie zögerte, doch die Frau nickte.
»Richtig erkannt. Haschisch. Sind Sie jetzt schockiert?«
Clara schüttelte den Kopf. »Nein … also, … ich weiß nicht«, gab sie ein wenig hilflos zurück. »Na ja, vielleicht … etwas … äh, verwundert?«
Sie spürte, wie sie verlegen wurde. Hastig nahm sie sich eine von ihren eigenen, bodenständigen Zigaretten.
Frau Winter lachte und schob ihr den Aschenbecher hin. »Das hat rein medizinische Gründe, glauben Sie mir. Es ist das beste Mittel gegen die ständigen Schmerzen. Und mein Lieferant ist sehr diskret.«
Clara nickte leicht benommen. Sie wusste nicht, was sie erwartet hatte, als sie Lieselotte Winter
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