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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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waren zu betrunken, zu vollgedröhnt, zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um etwas Genaueres mitbekommen zu haben. Es hatte Streit gegeben zwischen Ruth und Udo, meinte eine Zeugin, eine junge Frau namens Lio, deren eigentlicher Name Lieselotte Winter lautete. Sie glaubte sich zu erinnern, dass Udo uneingeladen zu der Party gekommen war und Ruth deshalb »Stress gemacht habe«. Die Vernehmung der Zeugen war kurz und wenig ergiebig. Die Beamten hatten sich keine große Mühe gegeben, den genauen Verlauf des Abends zu rekonstruieren, nachdem sie die Aussage von Johannes Imhofen und das Geständnis von Ruth hatten.
    Clara notierte die Adresse von Lio Winter und blätterte weiter. Sie würde versuchen, die Frau zu finden. Vielleicht hatte sie nicht geheiratet. Vielleicht wohnte sie noch in München. So viele Vielleicht , aber vielleicht hatte sie ja auch Glück?
     
    Am nächsten Morgen war der Schnee von gestern nur noch ein böser Traum. Clara lief durch die regennassen Straßen zur Kanzlei, genehmigte sich unterwegs bei Rita einen schnellen Cappuccino und saß um neun schon am Schreibtisch.
    Lieselotte Winter. Es gab drei Frauen mit diesem Namen im Münchner Telefonbuch, jedoch keine unter der Adresse von damals, sowie ein Eintrag L. Winter ohne Adresse und eine Lilo Winter-Askarova. Clara fing mit den Lieselottes an. Beim ersten Anschluss meldete sich niemand, beim zweiten Versuch traf sie auf eine schwerhörige Dame, die nach mehreren Anläufen endlich zur Antwort gab, sie sei dreiundachtzig und kaufe nichts. Clara strich den Namen auf ihrer Liste. Die Frau, die sie suchte, war nach den Angaben in der Akte heute neunundvierzig Jahre. Was allerdings bedeutete, dass sie um diese Uhrzeit auch in der Arbeit sein konnte. Clara seufzte und wählte die nächste Nummer. Ein Mann meldete sich und meinte, seine Frau sei vor vier Jahren gestorben, Schlaganfall, mit neunundsechzig. Clara entschuldigte sich und legte auf. Lilo Winter-Askarova entpuppte sich als junge Frau, die mit russischem Akzent sprach und angab, sie lebe erst seit drei Jahren in München.
    Blieb nur noch L. Winter und die Nummer, bei der sich niemand gemeldet hatte. Clara wählte und hoffte inständig, L. würde sich nicht als Ludwig oder Leonhard entpuppen. Als sich eine Frauenstimme meldete, fragte Clara nach: »Lieselotte Winter?«, und die Frau bejahte, kühles Misstrauen in der Stimme. Clara hielt die Luft an. Der Stimme nach war es das richtige Alter. Sie begann mit ihrer Erklärung, und noch während sie sprach, hatte sie das Gefühl, sie habe ihr Ziel gefunden.
    Die Frau am anderen Ende blieb still, unterbrach Clara kein einziges Mal, und als Clara geendet hatte, fragte sie nach kurzem Zögern: »Wie war noch mal Ihr Name?«
    Als Clara ihn ihr sagte, meinte die Frau nach einigen Augenblicken des Schweigens: »Das alles ist lange her, ich weiß nicht, ob ich Ihnen weiterhelfen kann.«
    »Können wir uns treffen?«, bat Clara. »Nur für eine halbe Stunde, es dauert sicher nicht länger.«
    Wieder zögerte die Frau, und Clara hatte schon Angst, sie würde einfach auflegen, doch dann sagte sie: »Na gut. Können Sie vorbeikommen? Ich bin nicht so gut zu Fuß.«
    Als Frau Winter Clara die Adresse nannte, staunte diese: Es war die alte Anschrift aus der Akte. Lieselotte Winter war offenbar nie umgezogen.
     
    Das Haus, in dem Frau Winter wohnte, war alt und heruntergekommen. Clara, die Elise vorsichtshalber in Willis Obhut gelassen hatte, stieg schnaufend die Treppe hinauf bis in den vierten Stock. Das Treppenhaus war dunkel und muffig. Die Wände waren bis auf halber Höhe mit einer Schmutz abweisenden, dunkelbraunen Farbe zugekleistert, darüber befand sich eine Tapete in verblichenem Spinatgrün, die sicher schon dort geklebt hatte, als Lieselotte Winter eingezogen war. Je höher Clara kam, desto strenger wurde der Geruch. Katzen, tippte Clara und rümpfte die Nase. Als sie klingelte, hörte sie hinter der Tür ein Maunzen und schickte ein Dankgebet zum Himmel, dass Elise nicht dabei war. Beim Anblick dieser gewandten Leisetreter fiel es ihrem Hund mitunter schwer, sich zu beherrschen, und wenn Clara nicht höllisch aufpasste, litten in der Folge nicht nur die Katzenbesitzer, sondern auch deren Wohnungseinrichtung erheblich.
    Die Frau, die Clara öffnete, saß im Rollstuhl. Sie hatte schwarzes, in der Mitte gescheiteltes Haar, zu einem Knoten aufgesteckt, und ein strenges Gesicht, das Clara vage an ihre alte Klavierlehrerin erinnerte. Auf

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