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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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erstaunt als schockiert. »Er hatte Angst.« Und in dem Moment wurde ihr klar, dass sie den Fall nicht mehr abgeben konnte. Nicht, bevor sie herausgefunden hatte, worum es eigentlich ging. Aber wie sollte sie jetzt an die Informationen gelangen, die er ihr hatte geben wollen?
    Clara blieb auf der Brücke stehen und schaute hinunter auf das Wasser, das dunkel und still dahinfloss. Die Uferlinie der Isar war kaum zu unterscheiden von den weiten Flächen der Isarauen, die sich hier kilometerweit erstreckten und die Clara so liebte. Jeden Tag ging sie hier mit Elise spazieren, bei jedem Wetter und so lange ihre Zeit es zuließ. Manchmal auch länger. Jetzt wurde die Landschaft von der herbstlichen Dunkelheit verschluckt. Nur die Lichter der Häuser entlang des Flusses konnte man sehen, versteckt hinter den kahlen Ästen der Kastanien und Linden, die die Spazierwege säumten. Sie zündete sich ein Zigarette an. Morgen würde sie noch einmal in der Klinik anrufen, sich offiziell als die gerichtlich bestellte Betreuerin von Ruth Imhofen vorstellen und um Überlassung der Krankenakten bitten. Dann konnte sie immer noch entscheiden, was sie damit anfangen sollte.
     
    In ihrer Wohnung war es kalt und ungemütlich. Sie drehte die Heizungen auf die höchste Stufe und schlüpfte in warme Socken. Dann zog sie die Vorhänge vor den großen Altbaufenstern im Wohnzimmer zu. Sie hatte sie erst vor ein paar Monaten gekauft. Dunkelrote Vorhänge aus weichem Stoff, die eine gemütliche Atmosphäre verbreiteten. Vorher hatte sie gar keine Vorhänge besessen. Sie hatte es schön gefunden, nachts am Fenster zu stehen und hinunterzusehen in die dunklen Straßen. Sie hatte diese Offenheit gemocht. Bis sie im vergangenen Frühjahr in diesen Fall verwickelt worden war. Diesen schrecklichen Fall, der sie dazu gebracht hatte, nachts in der Küche zu schlafen, aus Angst vor einem Überfall, Angst vor der Dunkelheit, vor ihrem eigenen Schatten. Noch nie zuvor hatte sie solche Angst gehabt. Danach, als alles vorbei war, hatte sie die Vorhänge gekauft. Sie wusste, dass sie nichts mehr zu befürchten hatte, aber manchmal beschlich sie immer noch das unheimliche Gefühl, beobachtet zu werden, belauert, verfolgt.
    Heute dagegen wollte sie es nur warm haben. Sie schaltete den Fernseher ein und holte sich einen Rest Thunfischsalat aus der Küche. Dann wickelte sie sich in eine Wolldecke und ließ sich auf ihr altes, durchgesessenes Sofa plumpsen.
    Elise zögerte nur den Bruchteil einer Sekunde, dann sprang sie neben Clara, drehte sich umständlich um ihre eigene Achse und ließ sich ächzend fallen. Es entstand ein kurzes Gerangel zwischen Clara und ihrem Hund, in dem Clara versuchte, wenigstens ein Drittel des Platzes für sich zu behaupten, dann hatte man sich geeinigt, und in einem einmütigen Durcheinander aus Hundeschnauze, rotbraunem Haarschopf, Pfoten und Menschenbeinen kehrte Ruhe auf der Couch ein.
    Clara ließ sich eine Weile von einer Talkshow berieseln, dann schaltete sie den Fernseher aus und griff neben sich auf den Boden, wo eine Flasche ihres Lieblingswhiskeys bereitstand. Redbreast , eine Erinnerung an längst vergangene Zeiten, die sich hinübergerettet hatte in die Gegenwart und der Clara über all die Jahre hinweg treu geblieben war. Sie goss sich einen Zentimeter voll ein und nippte daran. Vertraute Wärme breitete sich in ihr aus, und sie schloss genussvoll die Augen. Noch immer vermochte der Geschmack in ihr die alten Bilder heraufzubeschwören, die Straßen Dublins, bunte Fassaden, die Schilder der Pubs, Musik, die aus den offenen Türen drang, verfallene Bruchsteinmauern, der graue Himmel. Alles längst vorbei. Sie nahm einen letzten, etwas wehmütigen Schluck und stellte das Glas sachte auf den Boden. In dem Moment klingelte das Telefon. Clara fuhr erschrocken zusammen. Es war halb elf. Wer rief so spät noch an? Hastig und sehr zum Unmut ihres Hundes schälte sie sich aus ihrer Decke.
    »Ja?«
    Es war ihre Mutter. »Du wirst es nicht glauben, was heute passiert ist«, begann sie ohne Begrüßung.
    »Passiert?« Clara rieb sich die Stirn. Musste sie sich Sorgen machen? War etwas mit ihrem Vater? Doch ihre Mutter klang eigentlich nicht so. Eher aufgeregt als besorgt.
    »Erinnerst du dich an unser Gespräch von heute Mittag?«
    »Ja, natürlich.« Clara wurde klar, worauf ihre Mutter hinauswollte: Sie hatte von Ralph Lerchenbergs Tod gehört. Starnberg war eben doch ein Dorf, und ihre Mutter, Mitglied des Kirchenvorstandes und

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