Brudermord
sich. »Das, Frau Anwältin, wüssten wir alle gerne. Aber leider können wir Herrn Lerchenberg nicht mehr fragen, nicht wahr?« Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Sie sollten diese Angelegenheit wirklich uns überlassen, Frau Niklas. Unsere hausinterne Betreuerin verfügt sowohl über die notwendige Erfahrung mit der Patientin als auch über die medizinische Kompetenz, und Sie können Ihre kostbare Zeit für sinnvollere Dinge verwenden.« Dann legte er auf, bevor Clara noch etwas erwidern konnte.
Sie stand nachdenklich auf und öffnete das Fenster neben ihrem Schreibtisch, um den Rauchgeruch zu vertreiben. Sie und Willi, der ein leidenschaftlicher Pfeifenraucher war, hatten sich mit Rücksicht auf Linda und ihre Mandanten auf ein generelles Rauchverbot in der Kanzlei geeinigt, und Übertretungen wurden scharf geahndet, beispielsweise mit einer Einladung zum Mittagessen bei Rita oder einem freigehaltenen Abend im Murphy’s, ihrer Stammkneipe.
Clara lehnte sich auf die Fensterbank und zündete sich eine weitere Zigarette an. Sorgfältig blies sie den Rauch in die kalte Herbstluft hinaus. Es war ungemütlich kalt, und die schweren Wolken kündigten Regen an. Das trockene, klare Oktoberwetter der letzten Tage schien sich endgültig verabschiedet zu haben. Clara bemerkte eine Katze, die im Haus gegenüber am Fenster einer Wohnung im ersten Stock saß und auf sie herunterblickte. Unbeweglich hockte sie dort, wie eine Figur aus Porzellan, ihre Augen unverwandt auf Clara gerichtet. Clara winkte hinauf und wünschte, die Katze würde eine Bewegung machen. Doch nichts geschah. Reglos blieb das Tier auf der Fensterbank sitzen.
Clara rauchte ihre Zigarette zu Ende und warf die Kippe auf den Gehsteig. Dann schloss sie das Fenster und setzte sich unschlüssig an ihren Schreibtisch zurück. Ihr Blick fiel auf die Notizen vor ihr, und sie zog die Nase kraus. Hatte dieser Arzt tatsächlich versucht, sie zu bestechen? Zweifellos wollte er nicht, dass sie sich weiter um Frau Imhofen kümmerte. Doch hier passte nichts zusammen. War Dr. Lerchenberg tatsächlich so ein Mensch gewesen, wie Dr. Selmany ihn dargestellt hatte? Er war nervös gewesen, aufgeregt, ja, das schon. Aber tablettensüchtig, ein Trinker? Clara konnte es nicht sagen. Sie hatte ihn nicht gekannt. Und immerhin schien er sich umgebracht zu haben. Sie schüttelte den Kopf, das konnte sie nicht glauben. Niemand verabredet sich, wenn er vorhat, Selbstmord zu begehen. Aber andererseits … warum sollte Dr. Selmany solche Dinge über einen Mitarbeiter verbreiten, wenn sie keinen wahren Hintergrund hatten? Ärzte waren in der Regel nicht so freigebig mit Informationen, wenn es um Versäumnisse in ihren eigenen Reihen ging. Clara nickte nachdenklich. Genau das war es gewesen, das sie in dem Gespräch von Anfang an stutzig gemacht hatte. Dr. Selmany hatte sie glauben lassen wollen, er sei vollkommen aufrichtig zu ihr, doch in Wahrheit hatte er nichts preisgegeben. Diese ganze Geschichte um Dr. Lerchenberg konnte genauso gut dazu gedient haben, die wahren Hintergründe zu verschleiern.
»Da stinkt was ganz gewaltig, meine Liebe!«, sagte Clara zu Elise gewandt. Elise grunzte zustimmend und öffnete ein Auge.
»Weißt du was? Wenn uns dieser gute Doktor im Dunklen tappen lässt und auf eine dicke Rechnung von uns hofft, um diese Geschichte samt Frau Imhofen guten Gewissens wieder hinter den Mauern von Schloss Hoheneck verschwinden zu lassen, hat er sich getäuscht. Wir werden uns unsere Informationen einfach anderswo beschaffen!«
Das Haus Maximilian war ein schlichtes, weißes Gebäude mit schmucklosen Fenstern neben der großen Kirche gleichen Namens, nur wenige Straßen von Claras Kanzlei entfernt. Clara mochte diese Kirche, an der sie jeden Tag auf ihrem Weg zur Arbeit vorbeikam. Mit ihren wuchtigen, viereckigen Türmen und dem großen keltischen Steinkreuz im Vorhof wirkte sie ein wenig fremdartig für eine so südliche Stadt wie München, man fühlte sich bei ihrem Anblick eher an ein englisches Städtchen erinnert, mit gepflasterten, abschüssigen Gassen und blauen Hortensienbüschen vor schiefen, kleinen Fachwerkhäusern. Stattdessen stand sie an der Isar, und ihre Glocken waren weithin über den Fluss zu hören. Clara blieb vor der Eingangstür des Wohnheims stehen. Sie zögerte, unsicher, was sie erwartete. Sie wollte mit Ruth Imhofen sprechen, so bald wie möglich, doch die Worte von Dr. Selmany klangen ihr noch in den Ohren: »Schwer krank,
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