Brudermord
eigentlich gehört es sich nicht, darüber zu sprechen, jetzt wo Dr. Lerchenberg auf so tragische Weise …«
»Wovon sprechen Sie?« Clara fischte sich eine Zigarette aus der Schachtel in ihrer Tasche und tastete nach dem Feuerzeug.
»Also, Herr Dr. Lerchenberg war in letzter Zeit gesundheitlich nicht mehr so recht auf der Höhe, wie soll ich sagen, es gab … ähem … Unregelmäßigkeiten bei den Medikamenten, und er trank mehr als ihm guttat …«
»Ja und weiter?«, hakte Clara ungeduldig nach, als Dr. Selmany wieder verstummte. Dieses Reden um den heißen Brei ging ihr langsam auf die Nerven.
Der Arzt zögerte, bevor er weitersprach. Dann gab er sich einen Ruck: »Nun, kurz gesagt, er hatte sich nicht mehr im Griff, und das hat auch seine Urteilsfähigkeit getrübt. Wir hatten ihm daher nahegelegt, seine Anstellung hier aufzugeben. Vermutlich hat ihm dies - nun ja - den Rest gegeben. Aber im Interesse unserer Patienten konnten wir nicht anders handeln.« Er hüstelte etwas gekünstelt und fügte hinzu: »Eine wirklich tragische Sache, die uns alle sehr belastet.«
Wer’s glaubt, wird selig, dachte Clara böse in Bezug auf den selbstgerechten Ton des Arztes und hakte nach: »Sie wollten Dr. Lerchenberg entlassen?«
»Nun, uns wäre eine einvernehmliche Lösung lieber gewesen …«, wich der Arzt aus. »Aber dazu ist es jetzt bedauerlicherweise nicht mehr gekommen.«
»Bedauerlicherweise«, wiederholte Clara ironisch und bohrte nochmals nach: »Dr. Lerchenberg hat sich also bei seiner Diagnose im Fall Ruth Imhofen geirrt?«
»Aber das liegt doch auf der Hand!«, gab Selmany erregt zurück. »Frau Imhofen hätte nie entlassen werden dürfen. Sie ist schwer psychisch krank und aufgrund ihrer Krankheit unberechenbar. Alle Therapieversuche in der Vergangenheit sind fehlgeschlagen. Aber Dr. Lerchenberg wollte das nicht wahrhaben, er hat alle meine Warnungen in den Wind geschlagen.« Dr. Selmany seufzte tief. »Und als die Katastrophe dann passiert ist, hat er versucht, seine Haut zu retten. Er hat alle Unterlagen verschwinden lassen und Sie beauftragt. Aber es war natürlich viel zu spät.«
Clara schwirrte der Kopf. Sie hatte das Gefühl, nicht wirklich anwesend zu sein. Sie verstand nicht, wovon dieser Arzt sprach. »Katastrophe? Von welcher Katastrophe sprechen Sie?«, fragte sie unbehaglich. War ihr in dem Gespräch etwas entgangen?
»Wollen Sie mir etwa weismachen, Sie wüssten nichts davon? « Dr. Selmany klang plötzlich wütend. »Lesen Sie denn keine Zeitung?«
»Himmelherrgottnochmal!«, fluchte Clara. »Würden Sie endlich einmal Klartext mit mir reden?«
»Aber das tue ich doch!«, gab Dr. Selmany pikiert zurück. »Offenbar hat es Dr. Lerchenberg versäumt, Sie über die Tragweite dieses Falles aufzuklären.« Und wie zu sich selbst fügte er noch hinzu: »Das ist ja ein starkes Stück.«
»Er hatte es vor, aber die Sache mit dem Baum ist ihm dazwischengekommen«, gab Clara trocken zurück.
»Oh. Natürlich.« Dr. Selmany schwieg.
Clara wartete. Doch es kam kein weiterer Kommentar. Der Arzt schien nicht gewillt zu sein, mehr über die Sache zu sagen.
»Dr. Selmany?«
»Hören Sie, ich fürchte, ich muss das Gespräch hier beenden, ich habe noch Termine. Es tut uns sehr leid, dass Dr. Lerchenberg Sie mit dieser unseligen Sache belästigt hat.« Er hüstelte erneut, dann sprach er schnell weiter: »Wir werden sofort veranlassen, dass Ihre Beauftragung rückgängig gemacht wird, und für Ihre bisherigen Bemühungen kommen wir selbstverständlich in voller Höhe auf. Bitte schicken Sie uns Ihre Honorarrechnung, und scheuen Sie sich nicht, alle Posten anzusetzen, die Sie für angemessen betrachten. Es ist das Mindeste, das wir in Anbetracht des eklatanten Fehlverhaltens unseres Mitarbeiters tun können.« Es klang sehr salbungsvoll.
»Moment!« Clara runzelte die Stirn. »Wie kommen Sie darauf, dass ich diese Sache nicht übernehmen möchte?«
»Aber ich dachte … nachdem Sie keinerlei Informationen haben und Frau Imhofen in Kürze sowieso wieder in unsere Obhut zurückkommen wird, wäre es das Einfachste für alle Beteiligten, ihr die Betreuerin zu geben, die sie in all den Jahren zuvor hatte.«
Clara konnte nun die Ungeduld in Dr. Selmanys glatter Stimme durchklingen hören, doch das ließ sie unbeeindruckt. Längst hatten in ihr alle Alarmglocken zu schrillen begonnen.
»Warum wurde diese Betreuung denn überhaupt aufgehoben?«, fragte sie.
Dr. Selmany gab ein bitteres Lachen von
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