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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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ungefragt etwas zu essen dazu. Aufs Haus, wie so mancher Liter Wein auch. Es gab Dinge, die konnte man nicht ändern.
    Jetzt schenkte er Pablo noch ein Glas ein. Die Hände des Deutschen lagen auf dem Tisch wie zwei unnütze Gegenstände. Wie aus Holz geschnitzt. Als Miguel sah, dass Pablos Augen voller Tränen waren, klopfte er ihm sachte auf die Schulter, sagte jedoch nichts. Er wusste aus Erfahrung, dass es nichts brachte, mit ihm reden zu wollen. Mit Pablo war nicht mehr zu reden.
    Pablo, der eigentlich ganz anders hieß, hörte durch den Lärm, der von der Bar her klang, wie der schwere Rotwein gluckernd in das dicke Glas vor ihm floss. Er hörte, wie Miguel die Karaffe auf dem Tisch abstellte, und spürte seine Hand auf der Schulter. Er wollte danach greifen und sie festhalten, doch er konnte seine Arme nicht bewegen. Stumm blieb er sitzen und wartete, bis Miguel gegangen war. Er starrte auf das Glas vor sich, meinte, den Alkohol darin riechen zu können, die Gerbsäure, die die Zunge pelzig machte, und hatte einen metallischen Geschmack in der Kehle. Übelkeit stieg in ihm hoch und erinnerte ihn an die fette Chorizo, die er gerade eben gegessen hatte. Die erste Mahlzeit an diesem Tag. Mit einer raschen Bewegung, die man ihm gar nicht zugetraut hätte, griff er nach dem Glas und trank es in einem Zug aus. Dann langte er nach dem Päckchen, das die Frau ihm dagelassen hatte, und wickelte es vorsichtig auf. Es waren Briefe darin, ein ganzer Packen Briefe. Die meisten steckten in billigen, gebrauchten Umschlägen, und alle waren sie ohne Anschrift und ohne Absender. Doch er wusste auch so, dass sie an ihn gerichtet waren und wer sie geschrieben hatte. Sorgfältig öffnete er den ersten Brief und faltete ihn auseinander. Er wagte nicht, die Worte zu lesen, die auf dem einfachen, vergilbten Karopapier standen, kniff die Augen zu und presste dabei die Hände so fest auf das Papier, als müsste er sich daran festhalten. Es ging nicht. Er schaffte es nicht. Nach endlosen Minuten sinnloser Anspannung öffnete er wieder die Augen. Mit zitternden Händen goss er sich noch einmal von dem Rotwein ein. Schal rann der Wein seine Kehle hinunter. Er schenkte nach und trank auch dieses Glas hastig aus. Als sich endlich eine leichte Benommenheit in seinem Kopf bemerkbar machte, wandte er sich wieder dem Brief zu. Jetzt gelang es ihm, seine Augen auf die Worte zu richten, und langsam begann er zu lesen:
    Mein Geliebter,
    der Tag ist trotzdem schön. Er kümmert sich nicht um unsere Schuld. Kann dich das trösten? Mich schon. Manchmal. Ich glaube fest daran, dass alles gut werden wird. Es ist immer alles gut geworden, was er in die Hand genommen hat. Du kannst ihm vertrauen, Liebster, denn ich vertraue ihm auch. Es wird vorübergehen, und dann werden wir wieder zusammen sein und der Himmel wird so blau sein wie heute, und das Licht wird leuchten. Wenn du Angst hast, denke an den Apfelbaum. Denke an unser Haus am Meer. Siehst du es? Siehst du das gelbe Haus? Ich sehe es auch, und so können wir in Gedanken zusammen dort sein. Siehst du die Farben? Indischgelb, Krapplack, Chromoxidgrün. Du lachst wie immer, wenn ich über meine Farben spreche, ich kann dich hören …
    Er konnte nicht weiterlesen. Mit einer heftigen Handbewegung schob er das Papier weg und fegte dabei das Glas vom Tisch. Klirrend zerschellte es auf den Fliesen. Der Lärm in der Bar verstummte einen Augenblick. Köpfe wandten sich um, und alle sahen den Mann an, der seinen Kopf in beide Hände vergraben hatte und weinte.
     

MÜNCHEN
    Clara saß wie vom Blitz getroffen auf ihrem Stuhl in der dunklen Kanzlei und starrte das Telefon an. Dr. Lerchenberg war tot, hatte die Frau gesagt. Wie konnte das möglich sein? Sie schüttelte verwirrt den Kopf und stand auf. »Lass uns heimgehen, Elise«, sagte sie und fühlte sich plötzlich erschöpft. »Morgen sehen wir weiter.« Und während sie langsam den dunklen Weg am Fluss entlang und über die Brücke weiter zu ihrer Wohnung ging, versuchte sie, ihre Gedanken zu ordnen und herauszufinden, was dieser unerwartete Tod des Arztes für sie bedeutete. Sollte sie den Fall trotzdem abgeben, wie sie es sich heute Nachmittag vorgenommen hatte? Sie war wütend gewesen, hatte sich über die vertane Zeit geärgert. Doch er hatte sie gar nicht versetzt. Er war gestorben. Die drängende, nervöse Stimme des Arztes kam ihr wieder ins Bewusstsein, die Erregung und Angst, die darin zu hören gewesen war. »Angst«, flüsterte sie, mehr

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