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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Hoffnungslosigkeit.
    »Doch, natürlich«, sagte Clara schnell und war sich gleichzeitig nicht ganz sicher. Kannte man denn einen Menschen jemals so gut, dass man wusste, wie er in Extremsituationen reagierte? Was, wenn Ralph Lerchenberg doch in voller Absicht gehandelt hatte? Immerhin musste er befürchten, alles zu verlieren, sein Ansehen, seinen Job … Es hatten sich andere schon wegen geringfügigerer Probleme das Leben genommen. Je länger sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien ihr diese Möglichkeit. Doch es wäre grausam gewesen, Britta Lerchenberg jetzt darauf hinzuweisen. Wahrscheinlich hatte sie diese Möglichkeit selbst schon in Betracht gezogen, wollte es aber nicht glauben, konnte es nicht glauben, um nicht vollends zu verzweifeln. Lieber klammerte sie sich an ihren Hass gegen Dr. Selmany fest, solange es ging. Clara konnte sie gut verstehen. Schließlich meinte sie zögernd: »Ich weiß, ehrlich gesagt, nicht genau, was Sie jetzt von mir erwarten. Ich habe viel zu wenig Informationen, um irgendetwas zu unternehmen …«
    »Ich weiß. Deshalb bin ich hier«, unterbrach sie Britta Lerchenberg und deutete auf den Koffer neben sich: »Ralph kam am Montag damit an. Es war eigentlich sein freier Tag gewesen. Nachdem er aber von Johannes Imhofens Tod gehört hatte, ist er am Abend noch einmal in die Klinik gefahren und hat alle Unterlagen über Ruth Imhofen geholt, die er finden konnte. Er wollte sie Ihnen geben.«
     
    Clara zog den Koffer zu sich heran und öffnete ihn. Eine ganze Menge dicker Ordner fielen heraus, darunter auch die nicht zurückgeschickten Akten des alten Ermittlungsverfahrens. Außerdem eine Menge Notizen, unzählige dünnere, grünliche Mappen, alle mit Ruths Namen und Geburtsdatum beschriftet, offenbar Ruths Krankenunterlagen. Sie glitt mit der Hand darüber, zog das eine oder das andere ein kleines Stück heraus, konnte mit den Fingern die Worte, die Sätze, die Erklärungen, die auf sie warteten, förmlich spüren. Langsam sagte sie, ohne die Hände von den Akten zu lassen: »Sie hätten diese Akten nicht behalten dürfen, das wissen Sie?«
    Die Frau nickte. »Krankenhauseigentum, Staatseigentum … Selmany war deswegen auch schon bei mir. Wissen Sie was? Da scheiß’ ich drauf.« Sie lächelte freudlos. »Machen Sie was draus. Für Ralph.«
    Clara sah sie traurig an. Würde sie jemals über den Tod ihres Mannes hinwegkommen? Sie wünschte es ihr von ganzem Herzen. Britta Lerchenberg hatte ein Gesicht, das lachen und fröhlich sein sollte. Sie schob die Akten zurück in den Koffer und ließ die beiden Schlösser zuschnappen. »Vielen Dank.« Sie zögerte, dann stand sie auf und umschloss die kalte Hand der Frau spontan mit beiden Händen: »Es tut mir leid, Ihren Mann nicht persönlich kennengelernt zu haben. Er scheint ein bemerkenswerter Mensch gewesen zu sein.«
    Die Augen der Frau füllten sich wieder mit Tränen. Trotzdem lächelte sie.
    Frau Lerchenberg ging, und Clara hörte, wie ihre Schritte langsam auf der Treppe verhallten, sie hörte ein leises Murmeln, als sie sich von Linda und Willi verabschiedete, und dann war sie allein mit dem Koffer voll mit Wörtern, voll mit vierundzwanzig Jahren des Lebens von Ruth Imhofen.
     
    Ächzend schleppte Clara den unförmigen Koffer nach unten und stellte ihn neben ihren Schreibtisch. Jetzt, wo sie all die Informationen in den Händen hielt, die sie so dringend benötigte, überkam sie fast eine Art Scheu, die Akten zu lesen.
    Willi warf ihr einen fragenden Blick zu. »Alles in Ordnung?«, wollte er wissen.
    Clara nickte ein wenig unschlüssig. »Ich glaube schon«, sagte sie zögernd. Sie überlegte einen Augenblick, dann fragte sie: »Ist es im Grunde nicht auch Mord, einen Menschen so unter Druck zu setzen, dass er verzweifelt und vollgepumpt mit Beruhigungsmitteln gegen einen Baum fährt?«
    Willi betrachtete Clara nachdenklich. Ihre grünen Augen waren fragend auf ihn gerichtet, sie erwartete eine ernsthafte Antwort. Willi wünschte sich manchmal, Clara würde sich nicht immer die Fälle aussuchen, bei denen es sofort ums Eingemachte ging. Warum keine Verkehrsunfälle, leichte Blechschäden? Oder nette juristische Fragen, gerne ein wenig verzwickt, die man mit ein paar Kommentaren und guten Theorien zufriedenstellend lösen konnte. Bei Clara ging es immer um Leben und Tod, wenn auch meist im übertragenen Sinn. Immer die hochphilosophischen Fragen, immer Kampf, immer unter die Haut. Aber ehrlicherweise musste er

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