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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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ganze Welt stünde ihr offen. Hatte nicht erkannt, dass es nicht mehr so war? Vielleicht sollte sie sich ein graues Designerkostüm kaufen, die Haare nach oben stecken und Perlenohrringe tragen? Sie unterdrückte einen Würgereiz. Bloß das nicht.
    Ganz in ihre eigenen düsteren Betrachtungen versunken, hatte sie Ritas Reaktion auf ihren Ausbruch von Selbstzweifel gar nicht mitbekommen. Rita hatte zuerst erstaunt gelauscht, ihre Augenbrauen waren dabei noch ein wenig höher gerutscht und ganz unter ihrem Pony verschwunden. Dann hatte sie laut und herzhaft gelacht. » Dio mio , was hast du denn heute zum Frühstück gegessen? Wer hat dir bloß so einen Schwachsinn eingeredet?«
    Sie lachte noch immer, dann nahm sie Clara an der Schulter und drehte sie so, dass sie in die Fensterscheibe sehen musste. Undeutlich zeichnete sich ihre und Ritas Gestalt gegen den düsteren Regenmorgen ab.
    »Schau dich an! Das bist du: Clara! Tutt’ a posto, eh !«
    Clara musterte die verschwommenen Schemen. Draußen plätscherte der Regen in die Rinnsteine, und Passanten hasteten mit hochgezogenen Mantelkrägen und mürrischen Gesichtern vorbei. Sie lächelte ihrem vagen Spiegelbild zaghaft zu und spürte, wie die düstere Stimmung sich ein wenig lichtete. Tutto a posto . Alles in Ordnung. Es war nicht wichtig, was Gesa sagte. Sie konnte auch in zwanzig Jahren noch mit rosa gefärbten Haaren und quietschgrünem Minirock herumlaufen, wenn es ihr Spaß machte. Es gab niemanden, der es ihr verbieten könnte. Sie drehte sich wieder zu Rita um, und jetzt war ihr Lächeln fast das alte. »Hättest du wohl noch ein Croissant für mein Stinktier übrig?«
     
    Zurück in der Kanzlei konnte sie sich immer noch nicht entschließen, den Koffer mit Ruth Imhofens Unterlagen zu öffnen. Irgendetwas hielt sie davon ab. Sie bearbeitete halbherzig ein paar Akten, unterzeichnete die von Linda geschriebenen Schriftsätze und stocherte dann so lange im Ofen herum, bis Willi sie gereizt anfuhr, sie solle doch mit Elise einen Gang um den Block machen, wenn sie nichts Besseres zu tun hätte. Clara nahm ihn beim Wort. Unterwegs kam ihr eine Idee, wie sie sich sozusagen mit Erfolgsgarantie auf einen anderen Stern schießen konnte: Sie würde sich Schuhe kaufen!
     
    Zwei Stunden später kam sie deutlich beschwingt mit Tüten beladen in die Kanzlei zurück. Sie hatte ihre kleinen, einschlägigen Lieblingsläden durchstöbert und mehr Schätze erstanden als ein Paar neue Schuhe. Willi und Linda waren gerade in ihrer Mittagspause, und Clara breitete die Trophäen auf ihrem Schreibtisch aus: Ein paar Stiefel aus graubraunem Schlangenlederimitat, höllisch spitz und todschick, eine neue Jeans, die ihren Po zumindest laut Inga, der Verkäuferin, äußerst knackig wirken ließ, und die teure braune Lederjacke aus dem Schaufenster gleich nebenan, um die sie bereits seit Wochen sehnsüchtig herumgeschlichen war. Sie packte die Sachen zusammen und ging damit in ihre winzige Kanzleitoilette, um sich umzuziehen. Jetzt, jetzt konnte der Tag noch mal von neuem beginnen.
    Wie sie bereits befürchtet hatte, waren die Unterlagen äußerst umfangreich. Neben den beiden dicken Akten, die das Strafverfahren betrafen, gab es ungefähr ein Dutzend Krankenakten, dazu zahlreiche Notizen und Schreiben von Dr. Lerchenberg selbst und einen unscheinbaren grauen Ordner aus Kunstleder, von dem sie noch nicht wusste, was er enthielt. Sie fing mit der Strafakte an. Nach zwei Stunden, zwei weiteren Tassen Kaffee und einer Zigarettenpause hatte sie sich ein ungefähres Bild von dem gemacht, was damals vorgefallen war.
     
    Ruth Imhofen war 1983 mit einem jungen Mann namens Udo Reimers liiert gewesen, so wie es auch in der Zeitung gestanden hatte. Nach einer Party in ihrer Wohnung war es offenbar zum Streit gekommen. Ruth hatte Reimers mit einer Steinskulptur niedergeschlagen, und er war noch in der Wohnung gestorben. Es gab keine direkten Tatzeugen. Ruths Bruder hatte die Polizei gerufen.
    Clara runzelte die Stirn. Wie passte Johannes Imhofen hier ins Bild? War er auch Partygast gewesen? Clara hielt das für unwahrscheinlich: Nach dem, was sie von den Geschwistern bisher wusste, glaubte sie kaum, dass Johannes Imhofen Interesse an einer von Ruths Partys gehabt hatte.
    Sie blätterte weiter. Im Tatortbefundbericht der Polizei stand zu lesen, dass der Tote im Flur vor dem Badezimmer gelegen hatte. Weiter wurde festgestellt, dass die Badezimmertür abgeschlossen gewesen und von außen gewaltsam

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