Brudermord
Britta Lerchenberg kniff die Augen zusammen und überlegte. »Im Juli hat es angefangen. Genauer gesagt am Geburtstag unserer jüngeren Tochter, sie ist am 4. Juli zwei geworden. Ralph kam erst spätabends nach Hause, er hatte den Geburtstag völlig vergessen. So wie an diesem Abend habe ich ihn noch nie erlebt: Er war außer sich. Richtiggehend erschüttert. ›So eine Riesenschweinerei‹, hat er immer gesagt, und ›damit dürfen sie nicht durchkommen! ‹ Sie hob die Schultern und ließ sie wieder fallen. »Am Ende ist er nicht durchgekommen.«
»Von welcher Schweinerei hatte er gesprochen?«
»Ich weiß es nicht. Er wollte es mir nicht sagen. Aber es ging um Ruth Imhofen. Selmany war absolut dagegen, dass Ralph ein neues Gutachten in Auftrag gibt. Und dann hat auch noch ihr Bruder alles darangesetzt, zu verhindern, dass sie entlassen wird. Er war sogar einmal bei uns zu Hause, hat Ralph unumwunden Geld angeboten, eine ganze Menge Geld, damit er die Sache ruhen lässt.« Sie seufzte tief. »Ralph war nicht käuflich. Er hat ihn rausgeschmissen.«
»Johannes Imhofen hat versucht zu verhindern, dass seine Schwester entlassen wird?«, fragte Clara ungläubig. »Warum das denn?«
»Das wusste selbst Ralph nicht. Er war ziemlich erstaunt, als Imhofen plötzlich vor unserer Tür stand.«
»Also betraf die Schweinerei, von der er gesprochen hat, nicht Imhofen?«
»Nein. Es ging dabei um die Klinik. Erst als Ralph den Stein ins Rollen gebracht hat, wurde klar, dass nicht nur Selmany, sondern auch Ruths Bruder ein Interesse an ihrem Verbleib in der Klinik hatte. Aber fragen Sie mich bitte nicht, wieso. Jedenfalls hat sich Ralph mit seinem Einsatz für diese Frau eine Menge Probleme eingehandelt. Selmany hat ihn schikaniert, wo immer es ging, er musste wochenlang Nachtschichten schieben, und dann gab es immer wieder falsche Anschuldigungen, wie zum Beispiel Unregelmäßigkeiten bei den Medikamenten, die er verwaltete, oder den Vorwurf, er habe Patienten schlecht behandelt, unzulässigerweise fixiert oder mit zu hohen Medikamentendosen ruhiggestellt …«
Sie warf Clara einen flehenden Blick zu, bevor sie weitersprach: »Aber er hat das nicht gemacht, er war …«, sie schluckte heftig, »… er war der geduldigste Mensch, den Sie sich vorstellen können. Nie hätte er so etwas getan. Im Gegenteil, er hat sich immer für mehr Offenheit eingesetzt, mehr Zeit für die Patienten, weniger Medikamente …« Sie schüttelte den Kopf. »Sie haben das alles nur erfunden, um ihn mundtot zu machen.«
Ihr Gesicht verzog sich schmerzlich. »Und gestern sagte mir die Polizei, die Obduktion habe ergeben, dass er ein starkes Beruhigungsmittel eingenommen habe und deshalb gegen den Baum gefahren sei.« Sie schlug die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.
Clara ließ sie weinen. Als Britta Lerchenberg sich wieder gefangen hatte, fragte sie nachdenklich: »Aber warum zweifeln Sie an einem Unfall? Ihr Mann stand nach dem Mord an Imhofen sehr unter Druck. Er wusste, man würde Ruth verdächtigen und damit ihn mit an den Pranger stellen. Und er wusste, dass seine Stelle in der Klinik auf dem Spiel stand.« Ihr fielen die heftigen Stimmen wieder ein, die sie gehört hatte, als Lerchenberg sein Telefonat mit ihr unterbrochen hatte, und sie fuhr behutsam fort: »Wenn es tatsächlich darum ging, eine Schweinerei zu vertuschen, konnte Selmany es nicht tolerieren, dass Ihr Mann eine auswärtige Anwältin beauftragt. Sicher kam es zu einer heftigen Auseinandersetzung, wahrscheinlich wurde ihm endgültig mit Kündigung gedroht, und Ihr Mann hat sich darüber sehr aufgeregt. Er hat irgendein Beruhigungsmittel genommen …«
»Nein!« Der Einwand kam unerwartet heftig, und Clara verstummte überrascht.
»Warum?«, fragte sie noch einmal. »Warum kann es nicht so gewesen sein?«
Britta Lerchenberg sah sie fest an, und in ihrem Blick lag etwas Drängendes, eine Bitte, ihr gegen alle Wahrscheinlichkeit zu glauben. »Weil mein Mann niemals so ein Medikament angerührt hätte. Er hatte tagtäglich damit zu tun, er sah an seinen Patienten, was sie anrichten können.«
Clara fiel Pater Roman ein, er hatte sich auf ihre Frage, ob Lerchenberg möglicherweise tablettenabhängig gewesen war, ähnlich entschieden geäußert. Wenn aber Lerchenbergs Tod kein Unfall gewesen war, was dann?
Britta Lerchenbergs Stimme riss sie aus ihren Gedanken: »Glauben Sie mir nicht?«, fragte sie, und hinter ihrer äußerlich noch immer festen Stimme lauerte
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