Brudermord
Semmel. »Was treibt er denn so, dieser Mick«, fragte sie ungerührt weiter, ohne auf Claras bissigen Kommentar einzugehen. »Wie ein Rechtsanwalt sieht er jedenfalls nicht aus. Aber vielleicht studiert er ja noch?« Ihr Mund verzog sich zu einem spöttischen Lächeln. »Da ist er sicher froh, wenn du ihm finanziell ein wenig unter die Arme greifst.«
Claras Hände ballten sich unter dem Tisch zu Fäusten. Doch sie wollte sich von ihrer Schwester nicht provozieren lassen. Diesmal nicht. Deshalb lächelte sie nur milde, obwohl es sie die größte Überwindung kostete, und sagte mit honigsüßer Stimme: »Er ist drogensüchtig, und ich habe ihn am Bahnhof aufgelesen.«
Gesine knallte ihre halbgegessene Semmel auf den Teller: »Warum bist du nur immer so unmöglich, Clara?« Sie schüttelte den Kopf. »Man wird ja wohl noch mal seine Meinung sagen dürfen! Schließlich hattest du in der Vergangenheit nicht gerade ein glückliches Händchen bei der Auswahl deiner Männer. Aber bei dir muss es ja immer etwas anderes sein, immer abseits der Norm! Das ist nur noch lächerlich. Du bist schließlich kein Teenager mehr.«
Clara fiel es schwer weiterzuatmen. Ihr Gesicht brannte, und am liebsten hätte sie ihrer Schwester die Tasse Kaffee ins Gesicht geschüttet. »Hauptsache, ich werde nie so wie du, Gesa«, sagte sie leise und stand auf. »Ich denke, du gehst jetzt besser. Ich muss zur Arbeit.«
Als Gesine sich frostig verabschiedet hatte und die Tür mit einem Knall hinter ihr zufiel, traten Clara Tränen in die Augen. Ihr Gesicht brannte vor Wut. Sie ging zurück in die Küche und räumte langsam das Geschirr ab. Dann zündete sie sich eine Zigarette an und öffnete das Küchenfenster. Es regnete noch immer, und die Luft war getränkt von Feuchtigkeit. Es roch nach nassen Blättern, nach Herbst und matschigen Wiesen. Sie dachte an das Gefühl von gestern, als sie in Micks Pub gekommen war, und versuchte, die Wärme und Sicherheit, die sie umgeben hatte, zurückzuholen.
Es gelang ihr nicht. Gesines boshafte Worte drängten sich immer wieder dazwischen. Sie hatte recht gehabt mit ihrem Bedürfnis, ihre Beziehung zu Mick schützen zu wollen. Denn jetzt war das, was für sie ein Schatz gewesen war, herausgezerrt, zertrampelt worden, und im hellen Tageslicht schienen die kostbaren Edelsteine nichts als billiges Plastik zu sein. Sie wischte sich die Tränen mit dem Handrücken ab und schloss das Fenster. »Nein!«, sagte sie laut. »Deine Meinung zählt nicht, Gesa! Du hast keine Ahnung!« Doch ihre Tränen wollten nicht versiegen, und das Gefühl, dass etwas zerstört worden war, blieb.
Als Clara mit Elise eine gute Stunde später im strömenden Regen in der Kanzlei ankam, waren ihre Schuhe klitschnass, die Hosenbeine bis zum Knie dreckverspritzt und ihre Stimmung auf dem absoluten Tiefpunkt. Linda und Willi erwarteten sie bereits. Sie warfen sich einen betretenen Blick zu, als Clara mit tropfendem Schirm und grimmigem Gesichtsausdruck hereingestürmt kam und laut fluchte: »Scheißwetter!« Als Clara die beiden bemerkte, wie sie wie ein Empfangskomitee Schulter an Schulter vor ihr standen, blieb sie wie angewurzelt stehen.
Linda trat unbehaglich von einem Bein auf das andere und wich Claras Blick aus. Willi hatte die Stirn in tiefe Falten gelegt. In seiner Hand hielt er eine Zeitung.
Clara stöhnte auf. Ihr war klar, was nun kam. »So schlimm?«, fragte sie und streckte die Hand aus.
Beide nickten synchron. Willi zögerte, ihr die Zeitung zu geben, doch dann klappte er sie auf und hielt sie Clara entgegen.
Das Foto war auf der Titelseite. Unübersehbar. Es zeigte Clara, wie sie Ruth gestern Vormittag vor den Journalisten zu schützen versucht hatte. Ihr Gesicht war vor Wut verzerrt, der Mund weit aufgerissen, sie wirkte aggressiv und ziemlich außer Kontrolle. Darüber prangte in großen Lettern die Überschrift: Prügelanwältin greift Journalisten an!
Clara überflog den Artikel, lachte kurz und verächtlich, als sie las, dass der Fotograf sie wegen Körperverletzung angezeigt hatte, dann drückte sie die Zeitung Willi wieder in die Hand und ging zu ihrem Schreibtisch, ohne ein Wort an die beiden zu richten. Sie ließ sich auf ihren Stuhl sinken und vergrub ihren Kopf in beiden Händen. Was sollte aus einem Tag, der so begonnen hatte, auch anderes werden als eine Katastrophe? Clara fühlte sich müde, ausgelaugt, und am liebsten hätte sie sich sofort wieder ins Bett gelegt und die Decke über den Kopf
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