Brudermord
gezogen.
»Clara …« Willi war ihr gefolgt und stand jetzt vor ihr.
Clara winkte rüde ab. »Lass mich bloß zufrieden! Deine Vorwürfe kannst du dir sparen.« Sie drehte sich um und begann, in ihrer Tasche zu kramen.
»Kein Mensch macht dir einen Vorwurf!«, sagte Willi ruhig.
Clara hob den Kopf. »Ach!«, brachte sie überrascht hervor. »Ich dachte …« Sie brach ab.
Willi klappte die Zeitung erneut auf und musterte das Bild mit zusammengekniffenen kurzsichtigen Augen. »Du hast zwar schon mal vorteilhafter ausgesehen, aber insgesamt bist du ganz gut getroffen, so … entfesselt …« Jetzt grinste er, und Clara riss ihm die Zeitung aus der Hand. »Entfesselt! Na, danke schön.«
»Wir könnten das Foto vergrößern und ins Schaufenster hängen, zusammen mit dem Slogan: Wir prügeln uns sogar für unsere Mandanten!« Willi malte große Buchstaben in die Luft.
Clara musste wider Willen lachen. »Du bist vielleicht ein Idiot.«
Ein Hüsteln von Linda ließ die beiden verstummen. Sie deutete nach oben und meinte mit leiser Stimme: »Es ist jemand für Sie da, Frau Niklas.«
»Das sagen Sie jetzt erst? Wer denn?« Clara konnte sich nicht erinnern, für heute Morgen mit jemandem einen Termin vereinbart zu haben.
»Frau Lerchenberg«, antwortete Linda noch immer mit gedämpfter Stimme, als könne die Besucherin im ersten Stock jedes Wort mithören. »Sie hatte gestern doch schon einmal angerufen …«
Clara schlug sich mit der flachen Hand vor die Stirn. »Das hatte ich vollkommen vergessen! Hat sie gesagt, was sie will?«
Linda zuckte mit den Schultern. »Nein, aber sie hat einen Koffer dabei.«
»Einen Koffer?«
Britta Lerchenberg war eine hübsche, etwas dralle Frau Anfang dreißig mit einem weizenblonden Pferdeschwanz und dem Gesicht voller Sommersprossen. Unter normalen Umständen war sie sicher eine recht fröhliche und lebenslustige Person, vermutete Clara. Jetzt, so kurz nach dem Tod ihres Mannes, war davon jedoch nichts zu spüren. Ihr Gesicht war fahl, und die Sommersprossen wirkten wie graue Flecken, was ihre helle Haut noch blasser machte. Die Augen mit den blonden Wimpern waren ungeschminkt und rotgerändert. Sie trug Schwarz.
Clara hatte schon viele Witwen Schwarz tragen sehen, meist ältere Frauen, und oft hatte es etwas Aufgesetztes, Theatralisches gehabt. Doch bei Britta Lerchenberg wirkte es echt. Es wirkte so, als ob sie keine Farbe ertragen könnte, weder im Gesicht noch in der Kleidung, und zum ersten Mal begann Clara den Sinn dieser Tradition zu verstehen.
Sie reichte Frau Lerchenberg die Hand und setzte sich ihr gegenüber. »Möchten Sie etwas trinken? Kaffee oder ein Glas Wasser?«
Die Frau nickte. »Kaffee, schwarz, bitte.« Sie hatte eine klare, feste Stimme.
Clara hob den Hörer des Telefons und bat Linda um zwei Tassen Kaffee. Während sie warteten, fiel Claras Blick auf den Koffer neben der Frau. Es war ein alter großer Lederkoffer, in der Mitte ein wenig zusammengesunken und an den Seiten ausgebeult. Etwas Unförmiges befand sich offenbar darin.
Linda kam lautlos herein und stellte ein kleines Tablett mit zwei Tassen und Milch und Zucker auf den Tisch.
Als sie die Tür wieder geschlossen hatte, fragte Clara: »Weshalb wollten Sie mich sprechen?«
Frau Lerchenberg ließ sich Zeit. Sie zog ihre Tasse näher zu sich heran und rührte mit dem Löffel darin herum, obwohl es nichts zu rühren gab, denn sie hatte weder Milch noch Zucker genommen. Sie brauchte die Zeit offenbar, um sich zu sammeln, die Dinge zu ordnen, die sie sich für dieses Gespräch zurechtgelegt hatte.
Clara wartete geduldig, während sie selbst an ihrem Kaffee nippte.
Endlich sagte die Frau: »Mein Mann wird am Montag beerdigt.«
Clara stellte die Tasse zurück auf den Tisch. »Dann steht die Todesursache also fest?«
Britta Lerchenberg nickte, widerstrebend, wie es schien. Ihre Augen waren von einem sehr hellen Blau. »Offiziell war es ein Unfall«, sagte sie gedehnt, und der Satz blieb in der Luft hängen wie ein loser Faden an einem Kleidungsstück.
»Offiziell?«
»Ja.«
Clara wartete, aber es kam nichts mehr. »Aber Sie glauben das nicht?«, hakte sie schließlich nach.
Britta Lerchenberg schüttelte den Kopf »Egal, was die Polizei sagt, ich weiß, wer die Schuld an seinem Tod trägt.« Sie wischte sich mit einer müden Geste eine Strähne aus der Stirn. »Er hat ihn umgebracht.«
»Wen meinen Sie mit Er ?«, wollte Clara erstaunt wissen.
»Sein Chef, dieser verdammte Selmany.«
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