Brudermord
einen alten grünen Ford, und ungeduldig gehupt. Sie wollte nicht einsteigen, und er hatte sich eingebildet, es wäre wegen ihm gewesen. Da hatte sie ihn geküsst, mit kalten Lippen, und er hatte spüren können, wie sie vor Kälte zitterte. Ein langer unverschämter Kuss war das gewesen, vor den Augen ihres Freundes, und er hatte sich ein bisschen geschämt danach. Kurz darauf war der Bescheid wegen des Studienaufenthaltes gekommen, und als er die Namensliste der Namen der Stipendiaten las und Ruth darunter fand, hatte er an nichts anderes mehr denken können als daran, einen Sommer lang mit ihr zusammen sein zu dürfen.
Er biss in seine Brioche, verschlang sie hastig und nahm sich noch eine. Er spürte, wie das Zittern in seinen Fingern ein wenig nachließ, und kramte in seiner Hosentasche nach Kleingeld. Dieses Mal würde er bezahlen. Er hatte noch Geld übrig, auch wenn es bedrohlich schnell schrumpfte, und er wusste genau, dass Miguel ihm so manche Karaffe Rotwein umsonst gegeben hatte. Aber sein Zimmer konnte er noch eine Weile bezahlen, und sein Frühstück heute, das erste Frühstück seit Wochen, das diese Bezeichnung verdiente, würde er auch bezahlen. Noch war er kein Bettler. Noch nicht. Er trank seinen Tee aus und bestellte sich zu seiner zweiten Brioche einen Kaffee. Er nahm beides mit zu seinem angestammten Platz am Katzentisch, und einen winzigen Augenblick lang fühlte er sich fast wie ein normaler Mensch. Dann packte er das Bündel Briefe aus und legte es vor sich auf den Tisch.
In dem Umschlag, der dem Brief folgte, den er zuletzt gelesen hatte, befand sich kein Blatt Papier, sondern ein Fetzen weißen Stoffes. Er zog ihn vorsichtig heraus. Der Stoff stammte offenbar von einem Bettlaken, er war abgerissen worden, fransige Fasern lösten sich von den Kanten. Mit Bleistift waren fahrige, kaum leserliche Worte darauf gekritzelt. Er kniff die Augen zusammen, um den einzigen Satz besser lesen zu können:
Heute hat sie mich getötet. Seine Hände begannen wieder zu zittern, als er sinnloserweise versuchte, den Stoff zusammenzufalten, als wäre er ein Bogen Papier. Er starrte auf seine rechte Hand, die das kleine quadratische Stück kaum noch halten konnte, und mit einer ungeheuren Kraftanstrengung gelang es ihm, sie zur Faust zu ballen und den weißen Fetzen darin zusammenzuknüllen.
MÜNCHEN
Bei Rita war es warm und gemütlich. Clara rauchte eine Zigarette und trank einen Cappuccino dazu, obwohl sie eigentlich keine Lust darauf hatte. Elise bekam heute kein Croissant, obwohl sie ihre blutunterlaufenen Augen mit einem herzzerreißenden Blick zwischen Clara und den Objekten der Begierde auf der Theke hin und her wandern ließ. Doch selbst ein bittendes »Wuff!« konnte Clara nicht erweichen. Streng sah sie ihren Hund an: »Du musstest ja heute Männerwade zum Frühstück haben! Das hast du jetzt davon.«
Als Rita sich zu ihr setzte und eine ihrer langen, dünnen Zigaretten anzündete, knurrte Clara: »Ich hasse es, alles juristisch sehen zu müssen. Es kotzt mich an.«
Rita lachte. »Gute Arbeitseinstellung für eine Anwältin.« Dann wurde sie ernst. »Gibt es ein Problem, cara ?«
»Ich weiß nicht. Wahrscheinlich nur der übliche Mist, und ich steigere mich da rein. Aber ich habe so ein mieses Gefühl bei dieser Geschichte, so als ob ich sie eigentlich gar nicht hören wollte …« Sie schüttelte den Kopf: »Von Anfang an. Von dem Augenblick an, als dieser Arzt angerufen hat.«
Sie verstummte betrübt, dann sah sie an sich hinunter, ihre abgewetzte Jeans, ihren alten grünen Pullover, den sie in der Eile heute Morgen übergezogen und gleich angelassen hatte, und mit einem Mal kam er ihr schäbig vor, unpassend. Unvermittelt fragte sie: »Findest du mich lächerlich?«
Rita hob ihre dunklen Augenbrauen bis an den blondierten Pony: »Wie bitte?«
»Sag schon, ehrlich, findest du mich …«, sie zögerte, suchte nach einem Wort für das Gefühl, das sie seit Gesas Besuch heute Morgen nicht mehr losgelassen hatte. »… zu alt für alte Jeans, zu sehr auf jugendlich getrimmt, als ob ich irgendetwas verpasst hätte …?«
Sie fuhr sich mit den Händen durch ihre dichten, unordentlichen Haare und ließ sie dann traurig sinken. Vielleicht war es das, was Gesa gemeint hatte? Vielleicht war sie irgendwann stehen geblieben in ihrem Denken und Fühlen, in ihrer Art, sich zu kleiden? Auf dem Stand von fünfundzwanzig vielleicht? Fühlte sich immer noch so wie damals, glaubte immer noch, die
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