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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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zugeben, dass es gar nicht Clara war, die sich diese Fälle aussuchte. Sie flogen ihr zu wie Taubenscheiße. Er verzog zweifelnd das Gesicht und wusste genau, dass sie das, was er sagen würde, nicht hören wollte. »Moralisch gesehen vielleicht, aber juristisch? Das weißt du doch selbst am besten, dass …«
    »Ja, ja, schon gut.« Sie winkte müde ab. »Ich bin bei Rita.«
     

CADAQUÉS
    Er hatte Hunger. Dieses Gefühl war so ungewöhnlich für ihn, so lange nicht mehr da gewesen, dass er es anfangs gar nicht identifizieren konnte. Zu lange schon waren seine Tage im Rausch und Nebel untergegangen, kaum mehr als schwammige, verlorene Eindrücke, vage Erinnerungen zwischen unzähligen Flaschen Rotwein. Doch die Lähmung, die ihn seit Jahren befallen hatte und nicht nur seine Finger verkrüppeln ließ, sondern auch seine Seele, hatte plötzlich einen haarfeinen Riss bekommen. Man konnte nicht hindurchsehen, konnte ihn kaum ahnen, aber er war da. Und durch alle Übelkeit hindurch spürte er plötzlich, dass er Hunger hatte. Er ging zu Miguel und setzte sich an die Bar. Noch etwas Neues. Noch nie hatte er an der Bar gesessen, die für Gäste reserviert schien, echte Gäste, nicht solche Typen, wie er einer war. Er saß immer an dem kleinen Tisch, an dem nur Platz für eine, allerhöchstens zwei Personen war. Katzentisch hatte man die früher genannt, fiel ihm plötzlich ein. Wieso eigentlich Katzentisch? Er bestellte Tee bei Rosa, Miguels Schwester, und nahm sich eine Brioche aus der durchsichtigen Plastikvitrine auf dem Tresen. Rosa lächelte ihm zu.
    »Heute gut, Pablo, ja?«, sagte sie in ihrem kehligen Deutsch, das fast wie Spanisch klang, und stellte ihm eine große Tasse mit heißem Wasser und einem Teebeutel hin. Am Boden der Tasse schwamm eine Zitronenscheibe.
    Er antwortete nicht gleich. Er musste erst über ihre Frage nachdenken. Heute gut? Er wusste, sie meinte, ob es ihm heute besser als sonst ging, aber es konnte auch bedeuten, ob heute ein guter Tag war, ein besserer Tag als all die anderen zuvor. Wer konnte das sagen? Nur weil er Tee trank? Er zuckte mit den Schultern. » No sè «, sagte er schließlich, und er wusste es wirklich nicht.
    Aus irgendeinem Grund wurde Rosas Lächeln breiter, und sie tätschelte ihm den Arm. So, als ob es etwas Gutes wäre, nicht zu wissen, was der Tag bringen würde, etwas Schönes, nicht zu wissen, ob es einem gutging oder nicht.
    Er drückte den Teebeutel aus und legte ihn neben die Tasse. Dann trank er einen Schluck. Der Tee war stark und bitter. Er hätte auf Ostfriesenmischung getippt, wenn er nicht gerade in Spanien gewesen wäre. Er dachte an braunen Kandis und Sahne im Kännchen. Sahne vertrug er nicht mehr, er bekam Durchfall davon. Aber damals hatte er sie noch vertragen. Süße Sahne im Tee, die man langsam und vorsichtig den Tassenrand hinunterlaufen ließ, um dann zusehen zu können, wie sie sich in zarten cremeweißen Wolken mit dem bernsteinfarbenen Tee vermischte. Das leise Knacken der Kandisstücke, die letzten süßen Krümel am Boden der Tasse, die man am Ende lutschen konnte wie Bonbons. Sie hatte ihn dazu gebracht, Tee zu trinken. Das gehörte dazu, hatte sie gemeint, zum Norden, zu dem kleinen gelben Haus hinterm Deich. Waren sie nur dort glücklich gewesen? No sè. No sé nada.
    Er deutete auf seine Tasse und fragte Rosa: » Leche ?« Rosa nickte und holte ein Tetrapack fettarmer H-Milch aus der Kühlung. Vorsichtig goss er sich ein paar Tropfen davon in den Tee. Seine Hand zitterte dabei, und er verschüttete etwas auf den Tisch. Doch da waren sie, die cremeweißen Wolken, etwas dünner vielleicht als mit fetter Sahne, etwas durchsichtiger, aber sie wölbten sich nach oben, breiteten sich aus, vermischten sich, bis der Tee die Farbe von Sahnekaramell hatte. Er trank einen kleinen Schluck und schloss die Augen.
    Sie hatten ein Stipendium bekommen, einen Studienaufenthalt, dort oben in diesem Künstlerdorf an der Küste. Einen ganzen Sommer lang. Er hatte sie schon vorher gekannt, wer hatte Ruth wohl nicht gekannt, damals, in den Kreisen, in denen er verkehrt war? Sie hatten sich auf Partys getroffen, zusammen Joints geraucht, einmal hatte sie ihn geküsst, nur so, zum Spaß. Er versuchte, sich an den Kuss zu erinnern. Sie hatten draußen gestanden, auf der Straße, nach irgendeiner dieser Partys bei einem gemeinsamen Bekannten, unschlüssig, ob sie noch weiterziehen sollten oder nicht. Doch dann hatte Udo, ihr damaliger Freund, das Auto geholt,

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