Brudermord
gemacht. Sie drehte es unschlüssig in ihren Händen und schob es dann vorsichtig in die Innentasche ihres Mantels. So genau wollte sie sich gar nicht sehen. Und vor allem wollte sie nicht, dass andere sie so sahen.
Ansonsten fand sich nichts in dem Raum, das Clara irgendeinen Hinweis auf Ruths Verbleib hätte geben können. Nichts im wahrsten Sinne des Wortes. Keine Bücher, keine Fotos, keine Erinnerungen. Im Schrank hingen ein paar abgetragene, altmodische Kleidungsstücke, eine alte Sporttasche lag unter dem Bett, und Kosmetikartikel einer Billigmarke aus dem Drogeriemarkt standen aufgereiht über dem kleinen Waschbecken im angrenzenden Bad, das nicht viel größer war als eine Duschkabine. Auf dem Tisch am Fenster lagen ordentlich verstaut die Farbutensilien, die Clara ihr mitgebracht hatte.
Sie sah sich ratlos um. Konnte es denn sein, dass Ruth ihr neues Leben nach vierundzwanzig Jahren mit so wenig Gepäck begonnen hatte? Plötzlich fiel ihr etwas ein. Etwas, was Britta Lerchenberg am Telefon erwähnt hatte: Der Koffer! Es war Ruths Koffer gewesen, in dem Frau Lerchenberg ihr die Unterlagen ihres Mannes gebracht hatte. Und er hatte ihn Ruth zurückgeben wollen, weil sie häufig danach gefragt hatte. Warum hatte sie ihn haben wollen? Das Wenige, was sie offenbar besaß, passte leicht in die Sporttasche unter dem Bett, und der Koffer schien Clara nicht sehr ansehnlich und auch kaum teuer gewesen zu sein. Konnte es sein, dass sich in dem Koffer noch etwas von Ruth befand? Clara hatte ihn nicht gründlich untersucht, sie hatte nur die Akten herausgenommen und ihn dann in die Ecke gestellt. Ein hässliches Ungetüm, schwer und unförmig. War er nicht ungewöhnlich ausgebeult gewesen? Mehr, als man es von dem kurzen Transport der Akten hätte erwarten können? Clara lief zur Tür. Auf einmal hatte sie es sehr eilig.
Der Koffer war leer. Clara hatte ihn auf dem Fußboden neben ihrem Schreibtisch geöffnet und starrte enttäuscht hinein. Langsam tastete sie sich an dem karierten Innenfutter an der Unterseite des Koffers entlang. Nichts war zu fühlen. Elise, die neben ihr hockte, beäugte sie interessiert. Als Clara sich einen Augenblick ächzend aus ihrer gebückten Haltung aufrichtete, sprang Elise mit einem Satz in den Koffer und gab ein leises, anklagendes Winseln von sich.
Clara schüttelte lächelnd den Kopf. »Ich fahre nicht weg, keine Angst. Und schon gar nicht ohne dich.«
Sie versetzte der Dogge einen Klaps auf ihr Hinterteil, und als das nichts nützte, schob sie sie energisch hinaus. Dann setzte sie ihre Untersuchung im Kofferdeckel fort. Auch hier blieb ihre Suche zunächst vergeblich. Doch als sie ihn schließlich enttäuscht zuklappen wollte, fiel ihr etwas auf: Von der Seite besehen war der Deckel dicker, als er sein sollte. Die Innenwand war zwar glatt und gerade, die Außenwand aus Leder wies jedoch über die ganze Breite des Koffers eine leichte Ausbeulung auf, wie ein leichter Bierbauch. Clara tastete von beiden Seiten mit den Händen an der Ausbeulung entlang, und tatsächlich konnte sie jetzt etwas spüren. Da war etwas. Nichts Sperriges, eher etwas Weiches, das sich in die Wölbung des Kofferdeckels schmiegte und deshalb nicht sofort auffiel. Clara begann, die Ränder des Innenfutters zu untersuchen, und nach kurzer Zeit wurde sie fündig. An der linken oberen Ecke war die Naht aufgetrennt. Die losen Enden waren zwar wieder vernäht worden, jedoch sehr ungeschickt und offensichtlich nicht mit einem dafür geeigneten Werkzeug: Die Einstichlöcher waren groß, so als ob man mit einer Stricknadel oder einem Nagel durch den Stoff gestochen habe.
Clara pulte mit ihren Fingern zwischen den Stichen herum und vergrößerte die Öffnung. Es ging ganz leicht, und bald hatte sie auf diese Weise die ganze Ecke des Stoffes abgelöst. Es widerstrebte ihr, eine Schere zu Hilfe zu nehmen, sie wollte die Art und Weise nachvollziehen, wie Ruth hier offenbar mit großer Mühe etwas versteckt hatte. Als das Loch groß genug war, griff sie vorsichtig hinein und tastete sich vorwärts. Der Kofferdeckel war auf beiden Seiten mit starker Pappe verstärkt, und dazwischen befand sich ein flacher Hohlraum.
Plötzlich zuckte sie zurück. Ihre Finger hatten etwas Weiches, Nachgiebiges berührt. Es fühlte sich an wie das Fell eines Tieres. Nach einigem Zögern griff sie danach und zog es vorsichtig heraus. Es war ein Hausschuh. Ein rosafarbener Pantoffel aus Plüsch, in dem Papiere steckten. Sie griff noch einmal
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