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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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Bar war gut besetzt, und auch an den Tischen saßen einige Leute. Der Nebenraum, wo sich auch die Bühne befand, war noch so gut wie leer. Ein paar Gestalten in Jeans werkelten an den Boxen herum und stöpselten ihre Instrumente ein. Offenbar Micks Freunde. Clara warf ihnen einen scheelen Blick zu. Einer von ihnen sah aus, als wäre er nicht viel älter als zwanzig, er hätte gut einer der Schulkameraden ihres Sohnes sein können. Die anderen waren schlechter zu schätzen. Einer hatte so kurz rasierte Haare, dass er aussah wie ein Hooligan, war breitschultrig und untersetzt, ein anderer, den sie nur von hinten sah, trug sein glattes, pechschwarzes Haar zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden, der ihm über die Hälfte des Rückens hing.
    Clara hielt Ausschau nach Mick, und in ihrem Magen machte sich Nervosität breit. Vielleicht hätte sie doch lieber zu Hause bleiben sollen.
    Mick kam von der Theke auf sie zu und umarmte sie heftig. »Schön, dass du da bist«, murmelte er in der Nähe ihres Ohres in ihre Haare und zog sie mit sich.
    Clara folgte ihm mit einem mulmigen Gefühl. Gleichzeitig merkte sie aber, wie sie mit jedem Schritt Ruth und Johannes Imhofen, Gift-und-Galle-Gruber und das Polizeipräsidium ein kleines Stück hinter sich ließ.
    Aus der Nähe besehen, wirkten Micks Freunde nicht mehr ganz so, als könnten sie ihre Söhne sein. Clara schätzte sie auf Ende zwanzig, Anfang dreißig. Sie kamen alle drei aus Micks Heimatstadt Newcastle und hatten einen nordenglischen Akzent, der mit dem Englisch, das Clara kannte, fast nichts mehr gemein hatte. Sie begrüßten sie aufgekratzt und ohne peinliches Zögern. Mick strahlte, und seine Hand schloss sich fester um die ihre. Sie fühlte sich warm und sicher an. Clara atmete tief ein, und sie spürte, wie ihre Augen ein wenig feucht wurden. Gut, dass sie gekommen war.
    Sie bestellte sich bei Tami einen Whiskey und setzte sich an einen Tisch in der Ecke, von dem aus sie die Bühne gut im Blick hatte. Mit einem wohlig warmen Gefühl im Bauch lehnte sie sich zurück und sah den Männern zu, wie sie ihre Instrumente stimmten und sich mit Mick unterhielten. Als sie zu spielen begannen, kam Mick und setzte sich zu ihr, ein großes, dunkles Bier in der Hand.
    Der Kahlgeschorene, dessen Namen Clara vergessen bzw. gar nicht erst wirklich verstanden hatte, rief ihnen etwas zu. Clara hob verwirrt die Augenbrauen.
    »Sie fragen, ob du nicht singen willst«, übersetzte Mick. »Ich hab mächtig mit dir angegeben.«
    Clara schüttelte den Kopf. »Vielleicht später.« Sie trank ihr Glas aus und spürte, wie es in ihr zu kribbeln begann. Sie wollte schon, aber sie traute sich nicht.
    Nach einer guten halben Stunde winkten Micks Freunde Clara erneut zu und kündigten sie als »special guest« an, und nun fasste sie sich ein Herz und kletterte zögernd auf die Bühne. Unschlüssig nahm sie das Mikrofon und drehte es zwischen ihren Fingern. Ihr Blick fiel auf Mick, der sich gerade eine seiner dünnen, selbst gedrehten Zigaretten anzündete. Die Flamme erleuchtete für einen Augenblick sein Gesicht, und Clara spürte seine Augen auf sie gerichtet.
    Plötzlich wusste sie, was sie singen wollte. Es war eines ihrer Lieblingslieder von Janis Joplin, das sie jedes Mal zu Tränen rührte, wenn sie es hörte. Damals, vor vielen, vielen Jahren, hatte sie es bei jedem Auftritt gesungen. Sie flüsterte dem Kahlgeschorenen den Titel zu: Little Girl Blue. Er nickte, und als er nach kurzem Zögern die ersten Töne anspielte, war Clara plötzlich weit weg. Murphy’s Pub und die Menschen um sie herum verschwanden ebenso wie Ruth Imhofen und all das, was sie an diesem Fall so bedrückte.
    Clara hatte das Gefühl, zum ersten Mal seit Tagen wieder durchatmen zu können. Sie schloss die Augen und begann zu singen: » Sit there and count your little fingers, honey … «
     
    Als es zu Ende war und sie die Augen wieder öffnete, war es totenstill im Raum. Niemand klatschte, und alle starrten sie an. Clara spürte, wie die Röte ihren Hals hinaufkroch und ihre Wangen heiß wurden. War es so schrecklich gewesen? Doch plötzlich rief jemand Bravo, und auf dieses Kommando hin begannen die Leute zu applaudieren und zu pfeifen.
    Clara zwinkerte erleichtert. Dann kletterte sie rasch hinunter und drängelte sich durch die Zuschauer hindurch zu Mick.
    Er saß vor seinem halb leeren Bierglas und sah sie mit einem merkwürdigen Gesichtsausdruck an.
    Clara setzte sich mit erhitztem Gesicht. »Was ist los?«,

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