Brudermord
fragte sie. »Fandest du es so schlimm? Ich bin ein wenig aus der Übung …«
Mick schüttelte den Kopf. »Nein, nein, gar nicht, im Gegenteil, es war …« Er verstummte und rieb sich mit der Hand über sein Kinn. Er schien verlegen.
Clara lachte nervös. »Sag schon, sei ehrlich«, forderte sie ihn auf. »Ich kann schon was aushalten.« Sie nahm sich eine Zigarette. Die Band hatte wieder zu spielen begonnen.
Mick sah sie ratlos an: »Es war irgendwie unheimlich«, gestand er dann. »Du warst … ganz jemand anderes. Ich habe eine Gänsehaut bekommen.«
Clara erwachte spät am nächsten Morgen. Die Sonne schien bereits in ihr Schlafzimmer, und Elise gab ungeduldige Winseltöne von sich. Hastig sprang Clara aus dem Bett und schlüpfte in irgendeine Hose und ein Sweatshirt, dann lief sie mit Elise hinunter zur Isar. Es war warm, und die Luft war nach dem gestrigen Regen fast unwirklich klar, wie gewaschen.
Ruth Imhofen fiel ihr erst ein, als sie mit Elise fast schon in Höhe des Deutschen Museums war. Sie blieb abrupt stehen. Pater Roman hatte nicht angerufen. Als sie heute Nacht irgendwann so gegen zwei Uhr nach Hause gekommen war, hatte der Anrufbeantworter nicht geblinkt. Und sie meinte sich zu erinnern, dass es auch heute Morgen noch so gewesen war. Also war Ruth nicht zurückgekommen.Wo konnte sie nur sein? Hatte sie einen Unterschlupf bei jemandem, von dem niemand etwas wusste? Konnte es sein, dass sie doch noch Freunde in der Stadt hatte? Freunde von früher?
Clara runzelte die Stirn. Langsam begann Ruths Verschwinden sie ernsthaft zu beunruhigen. Gestern hatte sie sich geärgert, war besorgt gewesen, gestresst, wütend auf Gruber und wütend auf sich selbst, weil sie Ruth nicht hatte aufhalten können. Aber jetzt, mit ein wenig Abstand, begann sie sich zu fragen, was diese Flucht tatsächlich zu bedeuten hatte. War es nur die Angst vor der verschlossenen Tür gewesen? Die Assoziation mit der weißen Kammer? Oder hatte Gruber womöglich recht, und ihre Flucht war tatsächlich das Eingeständnis ihrer Schuld?
Clara pfiff nach Elise und machte sich nachdenklich auf den Rückweg. Sie musste sich noch einmal in Ruths Zimmer umsehen, vielleicht gab es dort einen Hinweis.
Pater Roman hatte sein Gesicht in den Händen vergraben und rührte sich nicht. Clara schwieg. Sie konnte seine Verzweiflung verstehen, wünschte sich aber, er würde aus seiner Lähmung erwachen und wenigstens versuchen, ihr zu helfen. Er kannte Ruth Imhofen viel besser als Clara, hatte sie begutachtet, mit ihr gearbeitet, sie fast vier Wochen täglich gesehen. Irgendetwas musste er doch wissen, irgendeinen Hinweis musste es doch geben. Ruth hatte kein Geld bei sich gehabt, als sie geflüchtet war, keine EC-Karten, keinen Ausweis, nichts.
Längst hatten sie in allen Krankenhäusern, bei der Bahnhofsmission und sämtlichen anderen ähnlichen Einrichtungen nachgefragt. Sie hatten mit Johannes Imhofens Witwe in Grünwald gesprochen und mit der Nachricht, dass Ruth verschwunden war, einen hochgradigen hysterischen Anfall bei ihr ausgelöst. Sie hatten Britta Lerchenberg angerufen und am Ende aus lauter Verzweiflung sogar in Schloss Hoheneck, obwohl es Clara mehr als abwegig erschien, dass Ruth ausgerechnet dort Unterschlupf gesucht haben sollte.
Selmany hatte seine Genugtuung über Ruths Verschwinden nicht verbergen können und ihnen scheinheilig viel Glück bei der weiteren Suche gewünscht. »Hoffentlich finden Sie sie, bevor noch etwas passiert«, hatte er am Ende gemeint und eine große Portion vorwurfsvoller Arztbesorgnis in seine salbungsvolle Stimme gelegt.
Clara hatte aufgelegt, ohne etwas zu erwidern. Dieser Mann verursachte bei ihr Brechreiz.
Es war wie verhext: Ruth Imhofen, diese passive, hilflose Person, die doppelt so lange wie jeder andere Mensch zu brauchen schien, um von A nach B zu kommen, hatte sich in Luft aufgelöst. Ohne Geld, ohne Verbindungen, und mit der Polizei auf den Fersen.
Noch war davon nichts zur Presse durchgedrungen, aber das war nur noch eine Frage der Zeit. Sybille Imhofen und Dr. Selmany würden sicherlich dafür sorgen, dass das Recht der Öffentlichkeit auf Information schnellstmöglich befriedigt wurde. Clara mochte sich die Schlagzeilen gar nicht vorstellen.
Und Pater Roman saß mit gekrümmtem Rücken neben ihr, die breiten Schultern nach vorne gebeugt, und starrte teilnahmslos vor sich hin. Er könne ihr nichts sagen, hatte er gemeint, nichts, was weiterhelfen würde. Ruth schien ihm
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