Brudermord
bestrichen. Clara lief das Wasser im Mund zusammen. Im Hintergrund ertönte leise Musik. Eine Opernarie, um genau zu sein. Clara identifizierte nach einigem Zögern Rolando Villazon, den sie, obwohl ihr die klassische Musik trotz oder gerade wegen der Anstrengungen ihrer klassikbegeisterten Familie, ihr diese nahezubringen, immer fremd geblieben war, gerne hörte und von dem sie sogar einige CDs besaß.
Mit einem ausgesprochen wohligen Zufriedenheitsgefühl ausreichend gewappnet, zog sie schließlich wieder den braunen Umschlag aus ihrer Tasche und fuhr fort, Ruths Briefe zu lesen.
Endlich hielt sie den letzten Brief in den Händen. Ihre von Honigbrot und Villazon herrührende Gelassenheit war durch die Lektüre mehrfach ins Wanken geraten, und sie hatte zwischendurch immer wieder aufhören müssen. Ein paarmal waren ihr beim Lesen die Tränen gekommen. Inzwischen hatte sie jedoch eine fiebrige Erregung erfasst. Die Briefe waren unklar, oft verwirrend und enthielten so gut wie keine konkret verwendbaren Informationen. Doch mit dem, was Clara bereits wusste, ergaben sie ein ziemlich klares Bild von dem, was Ruth erlebt hatte, und sie würden auch vor Gericht einen starken Eindruck hinterlassen.
Mehr als die Aussicht, mit diesen Briefen die Klinik in die Bredouille bringen zu können, beschäftigten Clara aber die Fragen, die sie aufwarfen: Wenn es ihr gelingen sollte, die dazugehörigen Antworten zu finden, dann würde sie nicht nur Klarheit über Ruths Verschwinden haben, sondern auch darüber, was an dem Sonntag, an dem Johannes Imhofen starb, tatsächlich passiert war.
Clara hätte nicht sagen können, was sie zu dieser Überzeugung gelangen ließ. Die Briefe waren alt, sie endeten bereits 1984 mit diesem letzten Brief in ihren Händen, den sie noch lesen musste, also bereits knapp ein Jahr nach Ruths Einlieferung in Schloss Hoheneck. Was könnten sie für einen Hinweis auf diesen Mord fast ein Vierteljahrhundert später geben? Gruber hätte sie ausgelacht, doch Clara war sich sicher: Diese Tat hing mit Ruths Vergangenheit zusammen, sie war viel enger mit jenem Ereignis verbunden, das damals zu Ruths Einweisung geführt hatte, als sie immer gedacht hatte. Und es war ihr auch klar, was das bedeutete: Womöglich hatte Gruber von Anfang an recht gehabt, und Ruth war tatsächlich die Täterin.
Noch auf dem Friedhof, während sie die ersten Briefe gelesen hatte, war ihr dieser Gedanke gekommen. Zum ersten Mal wirklich in aller Deutlichkeit und Konsequenz, und sie war ehrlich genug, diesen Gedanken nicht auf die Seite zu schieben. Erstaunlicherweise erschreckte sie diese Möglichkeit sehr viel weniger, als sie befürchtet hatte. Fast schien es ihr folgerichtig zu sein, selbst wenn sie noch gar nicht wusste, weshalb. Der erste Brief hatte sie diese Möglichkeit bereits ahnen lassen. Darin war Ruth noch so zuversichtlich und voller Vertrauen gewesen. Voller Vertrauen in jemand, der, dessen war sich Clara sicher, ihr Bruder sein musste, ihr großer Bruder, der sich um sie gekümmert hatte in den Jahren, nachdem die Eltern gestorben waren. Er würde alles richten, alles würde wieder gut werden.
Doch die Hoffnung hatte sich nicht erfüllt. Weshalb nicht? Weshalb hatte ihr Bruder ihr nicht geholfen? Weil sie getötet hatte? Ruth sprach von Schuld in diesem Brief. War ihre Schuld so groß gewesen, dass sie zum endgültigen Bruch mit ihrem Bruder geführt hatte? Und wie hatte Ruth empfunden, als klar wurde, dass ihre Hoffnung sich nicht erfüllen würde?
Clara dachte an Sybille Imhofen und deren fast panikartige Reaktion, als sie ihr von Ruths Verschwinden erzählt hatten. Sie hatte Angst vor Ruth, Angst vor einer Frau, die so lange eingesperrt gewesen war. Einer Frau, die wohl kaum mehr als 50 Kilo wog und den Eindruck erweckte, als könne sie keiner Fliege etwas zuleide tun.
Unwillkürlich fasste sich Clara an ihren Kopf, wo eine schmerzhafte Beule sie an Ruths Flucht aus dem Polizeipräsidium erinnerte. Ganz so harmlos, wie sie wirkte, war Ruth ganz offensichtlich nicht. Und ganz sicher nicht so hilflos. Immerhin hatte sie bislang sowohl die Polizei als auch Clara, die geglaubt hatte, Ruth Imhofen stehe ganz allein auf der Welt, an der Nase herumgeführt. Sie musste jemanden kennen, jemanden haben, der sie aufgenommen hatte, der sie vor der Polizei versteckt hielt …
Womöglich war dieser Jemand der Geliebte , an den Ruth all diese Briefe gerichtet hatte. Sie zweifelte keinen Augenblick daran, dass dieser
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