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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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die Luft war mild wie seit Tagen nicht mehr, und es roch nach feuchter Erde und Laub. Grün, dachte Clara, und ein Schatten fiel über ihr Gesicht. Genauso würde Ruth sich ausdrücken: Es riecht grün, es riecht nach tiefem Moosgrün, vermischt mit warmem, dunklem Erdbraun. Sie setzte sich auf ihre Bank und zog die Briefe aus dem Umschlag. Vorsichtig blätterte sie sie durch. Kein Name, keine Anschrift verriet den Adressaten. Sie schaute sich den ersten an. Oben in der Ecke stand ein Datum: 13. September 1983. Sie untersuchte die nächsten Briefe. Offenbar waren sie chronologisch geordnet. Bedächtig zündete sie sich eine Zigarette an und begann mit klopfendem Herzen zu lesen:
    Mein Geliebter …
     
    Als ein kalter, böiger Wind Clara von ihrem Platz vertrieb, waren fast zwei Stunden vergangen. Zwei Stunden, in denen sie gelesen, innegehalten, weitergelesen und endlose Minuten ins Leere gestarrt hatte.
    Sie packte den braunen Umschlag in ihre Tasche, klappte den Mantelkragen nach oben und rief nach Elise. Gemeinsam wanderten sie die Straße zurück in Richtung Kanzlei. Doch auf halber Höhe machte Clara abrupt kehrt und bog stattdessen in eine kleine Seitenstraße ein, die in die entgegengesetzte Richtung führte. Was wollte sie jetzt in der Kanzlei? Sich an den Schreibtisch setzen und Schriftsätze diktieren? Willi oder Linda oder auch nur Rita zu begegnen, war, als müsste sie sich zwingen, aus einer anderen Welt zurückzukehren. Sie fühlte sich außerstande, ein normales Gespräch zu führen. Bereits der Gedanke, ein bekanntes Gesicht zu sehen, erschreckte sie.
    Sie ging immer weiter, den Kopf gegen den Wind, der jetzt immer heftiger blies, die Schultern hochgezogen. Vor wenigen Stunden war die Luft noch mild gewesen, und die Sonne hatte geschienen. Unvermittelt waren jedoch schwere gelblich graue Wolken aufgezogen, und es roch scharf und kalt. Schneewind, hätte Claras Großmutter gesagt, geschnuppert und ihren Blick prüfend auf die nahen Berge gerichtet. Clara glaubte nicht, dass es schneien würde, nicht hier in der Stadt. Zumindest hoffte sie es. Es war erst Ende Oktober. Nächste Woche war Allerheiligen.
    Sie mochte den Schnee nicht besonders. Der schmutzige, rutschige Matsch auf den Straßen machte sie wütend, und sie hatte immer Mitleid mit Elise, die vom Streusalz wunde Pfoten bekam. Auf dem Land war das anders, dort war der Schnee etwas Schönes. Er deckte hässliche und schöne Dinge gleichermaßen zu und verwandelte die Umgebung in eine fremde Landschaft aus sanften Hügeln und Wellen. An den Wintertagen bei ihrer Großmutter in Starnberg hatte Clara sich immer über die Stille gewundert, die der Schnee brachte. Er schluckte alle Geräusche, sie hatte immer das Gefühl gehabt, er schlucke, sogar ihre Gedanken und mache sie ruhig und friedlich. In der Stadt war das anders. Dort wurde nichts geschluckt. Der Autolärm war lauter durch den Matsch auf den Straßen, und das vielstimmige Kratzen der Schneeschaufeln der Nachbarn am frühen Morgen hatte bei Clara ungefähr dieselbe beruhigende Wirkung wie das kollektive Hochzurren der Rollos in einer dieser spießigen Wohnsiedlungen am Stadtrand mit Handtuchrasen und Grillhäuschen aus dem Baumarkt.
     
    Ihre ruhelose Wanderung durch die Straßen hatte sie in eine Gegend geführt, in der sie noch nie gewesen war. Zumindest nicht wissentlich. Clara mochte es, neue Ecken zu entdecken und sich in ihrer eigenen Stadt fremd zu fühlen. Nach ein paar Metern blieb sie stehen und betrat ein kleines Café. Die Wände waren violett gestrichen, und an der hohen Decke hing ein alter Kronleuchter. Tische und Stühle waren kunterbunt durcheinandergewürfelt und hätten ihrer Schwester Gesine, die sich in Stilfragen für die absolute Instanz hielt, Tränen in die Augen getrieben. Clara gefiel es, und ihr gefielen auch die Gäste, die hier Zeitung lesend und Kaffee trinkend an den Nierentischen saßen und so aussahen, als ließen sie sich von den Umtrieben dieser Welt nicht so schnell aus der Ruhe bringen.
    Clara setzte sich an einen Tisch am Fenster, bestellte »echten Filterkaffee« und zwei »frische Butterbrote mit Honig«, etwas, das sie noch nie auf der Speisekarte eines Cafés gefunden hatte, und kraulte Elise hinter den Ohren. Draußen begann es zu regnen. Der Kellner, ein dicker junger Mann mit Stirnglatze und einer mehrfach gepiercten Augenbraue, brachte Kaffee in einer kleinen Kanne und zwei dicke Scheiben Schwarzbrot, üppig mit Butter und gelbem Honig

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