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Brudermord

Titel: Brudermord Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Veronika Rusch
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vollkommen allein, vollkommen hilflos und auf sich gestellt gewesen zu sein. Lange noch nicht über dem Berg, was die Nebenwirkungen der verabreichten Psychopharmaka anbelangte, und noch nicht bereit, ein selbstständiges Leben zu führen.
    Als Clara nachhakte und wissen wollte, was das für Nebenwirkungen seien, hatte er nur die Arme gehoben und etwas von »möglicher Absetzpsychose« gemurmelt.
    Clara wollte wissen, ob Ruths merkwürdiges Verhalten in Stresssituationen, dieses monotone Flüstern, vielleicht damit zusammenhing, aber Pater Roman schüttelte den Kopf.
    »Nein, das ist eine Eigenart von ihr, eine Art Angewohnheit, es hat nichts mit den Medikamenten zu tun.«
    Clara runzelte die Stirn: »Eine Angewohnheit? Mir kam das, ehrlich gesagt, ziemlich krank vor. Es war unheimlich.«
    Pater Roman lächelte traurig. »Stellen Sie sich vor, Sie geraten in eine Situation, in der Sie sich vollkommen wehrlos und ausgeliefert fühlen und es keine Hoffnung auf ein Entkommen gibt. Um in so einem Fall überleben zu können, müssen Sie sich eine Strategie zurechtlegen. Sie brauchen eine Waffe gegen ihre Peiniger, eine Waffe gegen die Hoffnungslosigkeit, sonst stehen Sie das nicht durch.«
    »Und Ruths Waffe ist dieses Flüstern?«, fragte Clara zweifelnd. »Wozu soll das gut sein?«
    »Es gibt eine Menge Beispiele dafür, wie die Sprache, die Erinnerung den Menschen in Extremsituationen geholfen hat zu überleben. Sie haben sich selbst Geschichten erzählt, Märchen, Lieder, die sie in der Kindheit auswendig gelernt haben. Denken Sie nur an die Schachnovelle. Der Häftling überlebt, indem er mit Brotkrümeln Schachzüge auf seinem Bettbezug nachspielt. Es hilft ihm, nicht verrückt zu werden, seinen Geist zu wappnen und nicht zu zerbrechen.«
    Clara sah ihn nachdenklich an. Sie begriff, was er meinte. »Es ist also eine Art Schutzschild für Ruth, eine Mauer, die sie um sich baut.«
    Pater Roman nickte. »Und gleichzeitig auch eine Waffe. Sie haben selbst gesagt, wie unheimlich dieses Flüstern auf Sie wirkt. Man hält damit seine Mitmenschen auf Distanz. So gesehen, ist Ruths Flüstern eher das Gegenteil von Krankheit und Schwäche. Es ist ein Zeichen ihrer inneren Stärke, ohne die sie nicht überlebt hätte.«
    Clara wünschte, Pater Roman hätte ihr diese Dinge bereits früher erklärt. Es hätte ihr geholfen, Ruth besser zu verstehen. Aber er war selbst viel zu beschäftigt damit gewesen, seine eigenen Probleme vor ihr und dem Rest der Welt zu verstecken. Und jetzt, jetzt war es womöglich bereits zu spät.
    Clara stand auf. Sie konnte hier nicht länger untätig herumsitzen. »Ich sehe mir jetzt Ruths Zimmer an«, verkündete sie und ging hinaus.
    Pater Roman nickte nur und blieb stumm.
     
    Clara fielen als Erstes die Bilder auf. Bei ihren früheren Besuchen hatte das Zimmer eher steril gewirkt, ein wenig farblos und sehr unpersönlich. Es hatte nichts über die Person preisgegeben, die darin wohnte. Clara hatte vermutet, dass es Ruth nach den Jahren in der Klinik schwerfallen musste, sich selbst wieder als eigenständige Person wahrzunehmen, und sie es verlernt hatte, ihrem eigenen Geschmack und ihren Vorlieben Ausdruck zu verleihen.
    Als Clara heute in das Zimmer trat, blieb sie überrascht stehen. Sie war nicht mehr hier gewesen, seit sie Ruth zu dem Spaziergang auf den Südfriedhof abgeholt hatte; gestern hatte Ruth sie unten im Gemeinschaftsraum erwartet. Claras Hoffnung, Ruth mit ihrem Ausflug neue Bilder und damit Anregungen für ihre Malerei zu geben, schien sich erfüllt zu haben. Die ganze Wand über Ruths sorgfältig gemachtem Bett war bedeckt mit Kreidezeichnungen und Aquarellen. Sie zeigten immer die gleichen Motive: den Friedhof, Ruth und Clara, und sie waren beeindruckend: Ruth hatte lebhafte Farben verwendet und kräftige, energische Striche, die Formen teilweise abstrakt, teilweise ziemlich naturgetreu und vollkommen anders als bei den Malversuchen, die Clara vor zwei Tagen gesehen hatte und die Ruth so unglücklich gemacht hatten. Diese Bilder schienen vor Intensität förmlich zu explodieren, sie leuchteten mit einer Kraft, die Clara bei dieser in sich gekehrten Frau niemals vermutet hätte.
    Vorsichtig nahm sie eine Zeichnung herunter, die sie selbst zeigte, mit tiefrot glühenden Haaren, züngelnd wie Flammen um ihren Kopf, und aufgerissenen, angstvollen Augen. Clara fröstelte, als sie das Bild betrachtete. Es war, als habe Ruth ihr Innerstes nach außen gestülpt, ihre Angst sichtbar

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