Brudermord
hinein und zog den zweiten Pantoffel heraus. Auch hier steckte ein dickes Bündel Papier in der Öffnung, die eigentlich für den Fuß gedacht war.
Clara kniete vor ihrem Fund und betrachtete ihn eine ganze Weile, ohne ihn zu berühren. Die Pantoffeln waren alt und ausgetreten, die Farbe stellenweise ins Gelblich-Graue verblichen und an den Fersen abgewetzt. Es war eine kluge Idee von Ruth gewesen, diese Schuhe als Versteck zu benutzen. So wurde verhindert, dass die Papiere in dem Hohlraum des Kofferdeckels knisterten oder hin und her rutschten und womöglich entdeckt würden.
Clara nahm einen der Pantoffeln in die Hand und zog das Bündel heraus. Es waren Briefe. Eine große Menge dünner Briefe, in unterschiedlich großen Umschlägen, teilweise auch ganz ohne Kuverts, nur gefaltet, vergilbt und auf ganz verschiedenem Papier geschrieben. Sie legte sie vorsichtig auf die Seite und zog aus dem anderen Schuh das zweite Bündel heraus. Auch das waren Briefe, doch darunter befand sich noch etwas anderes: ein schmales Büchlein, zerlesen und ebenfalls vergilbt.
Clara musterte es. Es war ein Gedichtband von Rose Ausländer. Sie blätterte ihn durch, las einige der Gedichte, erinnerte sich an manche Sätze. Sie kannte die Dichterin gut, liebte ihre farbige, bildhafte Sprache und hatte selbst ein Buch von ihr zu Hause. Ruths Art zu beschreiben fiel ihr ein, ihre etwas befremdliche Angewohnheit, Dinge durch Farben zu charakterisieren, wo kein anderer Mensch Farben sah. Es schien ihr nur natürlich, dass Ruth diese Dichterin mochte. Aber warum hatte sie das Buch versteckt? Hatte man in der Klinik nicht einmal Bücher erlaubt? Clara konnte sich das kaum vorstellen. Behutsam strich sie über die Seiten. Ruth hatte es schützen wollen. Vor fremden Augen, fremden Fingern. Dieses Buch musste Ruth sehr wichtig gewesen sein.
Als Clara es noch einmal durchblätterte, fiel ihr noch etwas auf. Etwa in der Mitte steckte ein zusammengefaltetes Stück Papier. Sie zog es heraus und faltete es auseinander: Es handelte sich um einen Werbeprospekt für eine Ausstellung in einer Münchner Galerie 1995. Sie legte ihn nachdenklich zurück. Es schien ihr irgendwie von Bedeutung, das Buch, dieser Prospekt, doch sie konnte keine Verbindung herstellen, wusste nicht, auf welche Weise es wichtig sein könnte. Vielleicht kam sie später darauf.
Ihr Blick fiel auf die Briefe. Sie waren entschieden bedeutsam. Clara spürte, wie sie aufgeregt wurde, als sie die beiden dicken Bündel betrachtete. Was würde darin stehen?
Sie zwang sich, sie nicht sofort zu lesen, und nahm stattdessen die Pantoffeln noch einmal zur Hand. Sie waren in einem schlimmen Zustand, viel schlimmer, als bloße Abnutzung es bewirkt haben konnte. Die Sohlen waren aufgerissen und dunkel von jahrelangem Schmutz. Teilweise hing der Füllstoff heraus. Ähnlich sah es auf der Innenseite aus. Auch dort waren Schmutzflecken zu erkennen. Ein paar dunklere, fast schwarze Flecken unterschieden sich von den anderen, sie waren tiefer in den Stoff eingedrungen als der oberflächliche Schmutz, bei dem es sich um Erde oder Ähnliches handelte. Clara vermutete, dass es Blutflecken waren, und sie fröstelte ein wenig. Blutverkrustete Hausschuhe. Was hatte das zu bedeuten?
Clara schob die Hausschuhe zurück in den Koffer. Sie konnte ihren Anblick nicht ertragen. Diese Pantoffeln berührten sie tiefer als alles andere, was sie bisher über Ruths Vergangenheit herausgefunden hatte. Sie spürte, wie sie wütend wurde. Eine heiße, wilde Wut bemächtigte sich ihrer, und sie richtete sich gegen alle und alles. Clara verfluchte den ignoranten Kommissar Gruber, der im Käfig seiner eigenen Erfahrungen gefangen war und nicht einmal den Versuch machte, über den Tellerrand hinauszuschauen, den hilflosen Pater Roman, dem weder sein breiter Rücken noch das Kruzifix an der Wand geholfen hatten, sich von seinen Schuldgefühlen zu lösen, die desinteressierten Vormundschaftsrichter und vor allem aber die Klinik. Sie ballte ihre Hände zu Fäusten und atmete zweimal tief ein und aus. Dann nahm sie die Briefe, vorsichtig, als handle es sich um etwas Zerbrechliches, und schob sie in einen großen braunen Umschlag. Sie brauchte einen Platz, wo sie sie ungestört lesen konnte. Sofort. Auf der Stelle. Und sie wusste auch schon, wo.
Auf dem Friedhof umfing sie die Stille wie ein Freund. Nichts deutete mehr auf ihre Angstattacke vom letzten Mal hin. Sie war allein mit Elise und den wenigen Vögeln um sie herum,
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