Bruderschaft der Unsterblichen
Klanguniversums vorzustoßen. Vielleicht werde ich auch komponieren. Vielleicht werde ich kritische Essays schreiben. Oder sogar Aufführungen inszenieren. Eli Steinfeld mit einer Bach-Reihe in der Carnegie Hall. Fünfzehn Jahre Musik, oder? Damit wären die ersten sechzig Jahre der Unsterblichkeit abgedeckt. Und was dann? Mittlerweile werden wir schon ziemlich weit im einundzwanzigsten Jahrhundert stehen. Also werde ich mich in der Welt umsehen. Auf Wanderschaft wie Buddha, zu Fuß von Land zu Land ziehen, das Haar lang wachsen lassen, gelbe Gewänder tragen, einen Betteltopf dabei und einmal im Monat den Scheck beim American Express in Rangun, Katmandu, Djakarta oder Singapur abholen. Die Menschheit anhand ihres Bauches entdecken, jede Speise einnehmen, Ameisen in Curry, gebratene Hoden, und mit Frauen aller Rassen und Bekenntnisse schlafen, in undichten Hütten wohnen, in Iglus, Zelten und auf Hausbooten. Zwanzig Jahre darauf verwenden, und ich habe einen guten Überblick über die Komplexität der menschlichen Kultur. Dann, glaube ich, werde ich mich meiner eigentlichen Vorliebe zuwenden, der Linguistik, der Philologie, und mich der Karriere zuführen, die ich im Moment aufgegeben habe. In dreißig Jahren wird mir vielleicht die endgültige Zusammenstellung der unregelmäßigen Verben in den indoeuropäischen Sprachen gelingen, oder ich werde das Geheimnis des Etruskischen enträtseln oder den kompletten Bestand an ugaritischer Dichtung übersetzen. Kommt drauf an, was mich gerade am meisten interessiert. Danach werde ich ein Homosexueller. Wenn man das ewige Leben zur Verfügung hat, sollte man alles mindestens einmal ausprobiert haben, nicht wahr, und Ned behauptet, das Leben eines Schwulen sei ein gutes Leben. Ich persönlich habe ja bisher immer Mädchen vorgezogen, rein intuitiv und instinktiv – sie sind sanfter, anschmiegsamer und angenehmer zu berühren –, aber irgendwann muß ich auch einmal herausfinden, was das eigene Geschlecht zu bieten hat. Sub specie aetemitatis, was sollte es schon ausmachen, ob ich den Schwanz in dieses oder in jenes Loch stecke? Wenn ich dann zum Heterosexuellen zurückgekehrt bin, werde ich zum Mars fahren. Um diese Zeit dürfte man ungefähr das Jahr 2100 schreiben; wir werden den Mars kolonialisiert haben, da bin ich mir ganz sicher. Zwölf Jahre Mars. Ich werde mit meinen Händen arbeiten, alles, was ein Pionier eben zu tun hat. Die nächsten zwanzig Jahre gehören der Literatur, zehn, um alles zu lesen, was bisher an Lohnenswertem geschrieben wurde, und zehn, um einen Roman zu schreiben, der gleichberechtigt neben dem Besten von Faulkner, Dostojewski, Joyce und Proust stehen kann. Warum sollte ich nicht fähig sein, es ihnen gleichzutun? Zu der Zeit werde ich kein dummer Junge mehr sein: Einhundertfünfzig Jahre ausgefülltes Leben liegen dann hinter mir, mit der tiefsten und breitesten Selbsterziehung, die je ein Mensch genossen hat, und ich werde immer noch über die Kraft der Jugend verfügen. Somit werde ich mich auf diese Aufgabe stürzen, eine Seite pro Tag schreiben, eine Seite pro Woche, fünf Jahre Planung, um das Gerüst des Romans zu erstellen, bevor ich ein Wort niederschreibe. Damit müßte ich eigentlich in der Lage sein, nun, ein unsterbliches Meisterwerk zu schaffen. Natürlich unter einem Pseudonym. Das wird sowieso noch ein ganz besonderes Problem werden, alle achtzig oder neunzig Jahre meine Identität zu wechseln. Sogar in einer leuchtenden futuristischen Zukunft werden die Menschen wahrscheinlich jemandem mit Mißtrauen begegnen, der einfach nicht stirbt. Langlebigkeit ist eine Sache, Unsterblichkeit eine ganz andere. Ich muß versuchen, irgendwie mein Vermögen mir selbst zu überschreiben, meine neue Identität so wählen, daß ich der Erbe meiner vorherigen bin. Ich werde dauernd verschwinden müssen und mein Aussehen verändern. Mein Haar färben, Bärte ankleben und abnehmen, Schnurrbärte, Perücken, Kontaktlinsen. Und darauf achten, nicht in die Verwaltungsmaschinerie zu geraten: Sobald meine Fingerabdrücke einmal in den Zentralcomputer geraten sind, werde ich Schwierigkeiten haben. Welche Geburtsurkunden werde ich vorweisen können, jedesmal, wenn ich erneut auf der Welt erscheine? Darüber muß ich mir Gedanken machen. Wenn man schon schlau genug ist, ewig zu leben, dann wird man auch schlau genug sein, es mit der Bürokratie aufzunehmen. Und wenn ich mich verliebe? Heiraten, Kinder haben, meiner Frau dabei zusehen, wie sie verwelkt und alt
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