Bruderschaft der Unsterblichen
hatte, mich selbst umzubringen. Ich habe Todesahnungen, ich bin zutiefst unglücklich über meine nicht wegzuleugnenden Unzulänglichkeiten, klar, aber zur gleichen Zeit wollte ich so lange wie möglich leben. Obwohl die Aussichten, Langlebigkeit von den Brüdern zu erreichen, plötzlich in einem sehr unfreundlichen Licht standen. Ich glaube nicht, daß es überhaupt einer von uns schaffen wird. Ich fürchte, dieser Fruchtboden fällt auseinander.
34. KAPITEL
Oliver
Zur Mittagszeit, als wir gerade von unserer Sitzung mit Bruder Miklos kamen, fing uns Bruder Javier in der Eingangshalle ab. „Ich möchte mich mit euch nach dem Mittagessen im Raum der Drei Masken treffen“, sagte er und wandte sich dann schweigend ab, um seinen Geschäften nachzugehen. Etwas Abstoßendes geht von diesem Mann aus, etwas Frostiges; er ist der einzige Bruder, dem ich am liebsten aus dem Weg gehe. Er hat die Augen und die Stimme eines Zombies. Nun, jedenfalls kam ich zu dem Schluß, daß die Zeit für die Beichttherapie gekommen war, von der Bruder Javier uns vergangene Woche erzählt hatte. Ich behielt recht, obwohl der formelle Rahmen nicht ganz dem entsprach, was ich erwartet hatte. Ich hatte mich auf so etwas wie eine Selbsterfahrungsgruppe eingerichtet: Ned, Eli, Timothy und ich sitzen im Kreis mit vielleicht zwei oder drei Brüdern zusammen, und nacheinander stehen alle Kandidaten auf und entladen alles, was sich in ihrer Seele angesammelt hat. Danach diskutieren wir das Gehörte, versuchen, es in Begriffen aus unserer eigenen Lebenserfahrung zu interpretieren und so weiter. Aber so war es nicht. Bruder Javier erklärte uns, daß wir in einer Art intimer Mann-zu-Mann-Konfrontation einander beichten sollten.
„In der vergangenen Woche“, sagte er, „habt ihr euer Leben untersucht und auf eure tiefsten Geheimnisse zurückgeblickt. Jeder von euch hat in seiner Seele mindestens eine Episode vergraben, von der er sicher ist, daß er sie niemals einem anderen erzählen kann. Und es ist diese furchtbare Episode und keine andere, auf die es bei unserer Arbeit ankommt.“
Er wollte, daß wir den häßlichsten, beschämendsten Vorfall unseres Lebens herausfinden und herausarbeiten sollten – und diesen dann verraten, um uns selbst von dieser Art Seelenballast zu befreien. Javier legte seinen Anhänger auf den Boden und drehte ihn, um damit festzulegen, wer wem beichten sollte. Timothy mir; ich Eli; Eli Ned; Ned Timothy. Aber der Kreislauf spielt sich nur zwischen uns vieren ab, kein Außenstehender gehörte dazu. Bruder Javier hatte nicht die Absicht, unseren bestgehütetsten Schrecken der Öffentlichkeit kundzutun. Wir durften ihm oder sonst jemandem nichts darüber erzählen, was wir von den anderen in diesen Beichtsitzungen erfuhren. Jedes Mitglied des Fruchtbodens sollte zum Wächter des Geheimnisses von jemand anderem werden. Und was wir bekennen würden, sagte Bruder Javier, solle niemand anderer erfahren als unser jeweiliger Beichtvater. Auf die Reinigung käme es vor allem an, auf die Entlastung, und nicht auf die preisgegebenen Informationen.
Damit wir die reine Atmosphäre des Schädelhaus nicht allzusehr vergifteten, indem wir auf einen Schlag zu viele negative Gefühle freisetzten, entschied Bruder Javier, daß pro Tag nur eine Beichte stattfinden solle. Und wieder entschied der gedrehte Anhänger die Reihenfolge. Heute abend sollte kurz vor der Schlafenszeit Ned zu Timothy gehen. Morgen würde Timothy zu mir kommen; übermorgen hätte ich Eli aufzusuchen; und am vierten Tag würde Eli den Kreis schließen und Ned beichten.
Damit blieben mir zweieinhalb Tage Zeit, um mich für eine Geschichte zu entscheiden, die ich Eli erzählen wollte. Natürlich wußte ich, welche Geschichte ich erzählen mußte. Es gab nur sie. Aber ich überlegte mir zwei oder drei Märchen als Ersatz, Surrogate für die eigentliche Geschichte, richtige Ausflüchte, um die einzige, notwendige Wahl zu treffen. So schnell, wie mir diese Ersatzmöglichkeiten in den Sinn kamen, verwarf ich sie auch wieder. Mir blieb nur die eine Wahl, nur ein wirklicher Brennpunkt von Scham und Schuld. Ich wußte nicht, wie ich den Schmerz ertragen sollte, der mich befallen würde, sobald ich erzählte, aber mir blieb nichts anderes übrig, als diese Geschichte zu erzählen, und ich hoffte, daß in dem Moment, wo ich mit ihr begann, der Schmerz vergehen würde; jedoch zweifelte ich stark daran. Darüber wirst du dir Gedanken machen, wenn es soweit ist, sagte ich
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