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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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sie gesagt.
    Jetzt wusste Jan zumindest ihren Namen. Er erinnerte sich sogar daran, wo ihr Haus lag, obgleich er draußen im Schneegestöber jede Orientierung verloren hatte.
    Sein Großvater hatte ihm das Haus früher mal bei einer Waldwanderung gezeigt. Es lag wie das seiner Großeltern etwas abseits von Solthaven, und er erkannte es sofort wieder.
    Es war ein kleines Haus auf einem kleinen Grundstück, viel kleiner als das seiner Großmutter und umgeben von hohen Tannen. Darunter schaute es böse und dunkel hervor mit blinden Fenstern und aufgeplatztem rauem Putz.
    Sein Großvater hatte ihm damals erklärt, er sollte den Teil des Waldes meiden, der an das Grundstück grenzte. Es könnte nämlich sein, dass die Frau an genau dem Tag keinen Hasen schoss, und dann würde sie auf Kinder schießen und die essen. Und egal, was die Frau ihm einzureden versuchte – er glaubte seinem Großvater.
    Denn das mit dieser Frau und den Kindern war eine andere Geschichte als die mit dem Osterhasen und dem Weihnachtsmann. In der Schule hatte er von Kannibalen gehört, und später dann hatte er im Internet einen Artikel darüber gefunden. Da war sogar eine Elfenbeinskulptur abgebildet gewesen. »Menschenfresserin«. Die Frau war nackt und nagte an einem großen, runden Knochen, während ihr zu Füßen ein verängstigter Junge kauerte.
    Bei diesen Gedanken durchfuhr ihn ein Schauer, obwohl er inzwischen in ihrer warmen Küche stand.
    »Frierst du noch?«
    Die Frau musterte ihn mit ihren kleinen Augen, die ihm unangenehm waren.
    Er schüttelte den Kopf.
    »Wie heißt du?«
    Sie zog den langen Mantel aus und warf ihn über einen der Stühle zu einer Jacke und einer Hose, die dort bereits lagen. Unter einer verwaschenen, kornblumenblauen Drillichhose mit einem Latz trug sie einen blauen Pullover. Die Hosenbeine steckten in klobigen Schnürstiefeln, und die Frau machte keine Anstalten, sie auszuziehen.
    Als er nicht antwortete, fragte sie ein zweites Mal nach seinem Namen.
    Er konnte ihn ruhig nennen, auch wenn er nicht mit ihr reden sollte. Hier drinnen hörte ihn sowieso keiner. Und mehr brauchte er ja nicht zu sagen. Doch das Sprechen war längst wieder beschwerlich geworden.
    »Jan«, antwortete er und bewegte den Mund dabei so breit und zögerlich, als kaute er eine Kartoffel.
    »Also Jan, sag Henny zu mir.«
    Die Frau nahm seine Hand. Ihr kräftiger Griff umschloss seine zarten Finger wie eine fleischfressende Pflanze. Er vermeinte schon das schmatzende Geräusch zu hören, mit dem sie sie gleich in sich hineinsaugen würde.
    Er hielt die Luft an.
    Als sie seine Hand losließ, atmete er erleichtert auf. Es war kein Trick gewesen, ihn festzuhalten.
    Sie hatte gar nicht auf ihn schießen müssen. Er war ihr wie ein kreuzdoofes Kaninchen genau vor die Flinte gelaufen. Wenn das die Jungen in seiner Klasse erfuhren, würden sie ihn wieder wochenlang auslachen. Aber das war längst nicht so schlimm, wie hier in diesem Haus zu sein. Er musste etwas unternehmen.
    »Sie werden mich suchen.« Der Satz tobte in seinem Kopf, brach sich Bahn und füllte seinen Mund aus wie ein zu großer Bissen. Er öffnete die Lippen.
    Er brachte den Satz nicht heraus. Aber er musste ihn sagen. Sie musste es wissen. Er konzentrierte sich auf das entscheidende Wort.
    »Suchen«, stieß er mit kläglicher Stimme hervor.
    Er stand neben einem alten Küchentisch, dessen dunkles Holz von Kerben durchzogen war. An einer Stelle war sogar eine Ecke herausgebrochen. Dort war das Holz viel heller und freundlicher. Er starrte auf die Stelle, als könnte ihn das zusammenhalten.
    Die Frau hatte einen Kessel Wasser aufgesetzt. Vom Herd aus sah sie ihn nun neugierig an. Sie verstand ihn nicht.
    Jan legte den Finger auf die fehlende Ecke.
    Ihr Blick folgte seinem Finger. Jetzt schien sie zu verstehen.
    »Ich will doch hoffen, dass sie dich suchen«, sagte sie schließlich. »Aber setz erst mal den Rucksack ab und zieh die Jacke aus. Du bekommst einen Lindenblütentee. Dann rufen wir deine Mutter und deine Großmutter an und sagen Bescheid. Und vorher wäschst du dir das Blut von Händen und Schuhen.«
    Sie hatte es nicht verstanden. Entsetzt schaute er sie an.
    Sie durfte nicht zu Hause anrufen. Schon gar nicht bei der Großmutter.
    Doch da war noch etwas anderes, und das musste er jetzt wissen. Jetzt sofort.
    »Werden Sie heute den Hasen essen?« Der Satz wand sich zwischen seinen Zähnen hervor und wuchs zu einem verwirrenden Ungetüm aus Vokalen und Konsonanten. Er konnte

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