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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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Distanz zu den Tätern, zu ihren Verbrechen und zu ihren Opfern einzunehmen.
    Doch es war anstrengend, und ich war mir bewusst, wie schmal der Grat war. Schlussendlich jedoch siegte meine Professionalität als Journalistin, und so nickte ich. Ja, ich wusste, dass er sich auf Kinder spezialisiert hatte.
    »Nehmen Sie mal an, ich plante alles perfekt und weit im Voraus. Wissen Sie, was das bedeutet?«
    »Sagen Sie es mir.«
    »Man muss Geduld haben. Man sucht das perfekte Opfer unter Hunderten aus. Man studiert seine Gewohnheiten. Wann es zur Schule geht, wann es nach Hause kommt. Wie oft es bummelt. Wo es zum Sport hingeht. Wann die Eltern arbeiten oder zu Hause sind. Ich kannte die besten Freunde, die Vorlieben, jedes Detail, und ich wartete auf die perfekte Gelegenheit.«
    »Ich verstehe immer noch nicht, worauf Sie hinauswollen.«
    »Haben Sie etwas Geduld«, sagte er. »Alle reden immer vom Druck, der sich bei einem Sexualstraftäter aufbaut.«
    »Und?«
    »Das ist richtig. Doch der Druck bedeutet nicht, dass jemand mit Prinzipien wie ich wahllos wird. Jemand wie ich braucht den Kick. Der Kick muss wachsen.«
    »Sie meinen, Ihre Vergewaltigungen und Morde wurden zunehmend ausschweifender?«
    »Meine Fantasien wurden raffinierter.«
    »Größenwahnsinniger.«
    »Perfekter«, sagte er. »Sie haben es hier mit Kunst zu tun. Das dürfen Sie nie vergessen. Ich war ein Künstler.«
    »Kommen Sie auf den Punkt.«
    »Erinnern Sie sich an Claudia Langhoff?«
    Ich starrte ihn an. Sie war die Freundin meines Bruders gewesen. Die Polizei war wochenlang davon ausgegangen, dass Leo sie vergewaltigte und ermordete, nachdem er Charles erschossen hatte. Erst Koslowskis Geständnis hatte meinen Bruder offiziell entlastet. Nach dem Mord hatte Koslowski Claudias Leiche auf eine stillgelegte Müllhalde geworfen wie einen ausrangierten Putzlappen. Der oft herumstreunende Mischlingshund ihrer Eltern fand sie zwei Tage später und kam stolz mit einem verdreckten Schuh zurück.
    »Sie war neunzehn«, fuhr Koslowski fort, als ich schwieg.
    »Und?«, fragte ich mit einer Stimme, die mir selbst fremd vorkam.
    »Sie hatte einen Freund. Ihren Bruder Leo. Vier Jahre älter als sie. Dabei soll sie ganz scharf auf Charles Swann, Ihren Freund, gewesen sein.«
    »Das war schon damals nur dummes Getratsche. Also hören Sie auf, es zu kolportieren.«
    Meine Stimme klang ruhig, doch mein Herzschlag folgte seinem eigenen Rhythmus.
    »Diese Gerüchte waren aber der Grund dafür, dass man Ihren Bruder zunächst verdächtigte, nicht nur Charles Swann, sondern auch Claudia Langhoff umgebracht zu haben. Aus Eifersucht.« Koslowski grinste.
    »Noch ein Wort, und ich gehe.«
    »Das werden Sie nicht. Ich habe Sie am Haken.«
    Er legte eine Kunstpause ein. Das Grinsen erlosch, und wir starrten einander an. In seinem Gesicht rührte sich kein Muskel. Er hatte Recht, und er wusste es.
    »Sie war kein Kind«, sagte er, jede Silbe betonend.
    Ich schwieg.
    »Haben Sie verstanden?«, hakte er nach.
    »Sie eignete sich nicht als Kunstwerk«, beendete ich seinen Gedankengang, und dann brach sich etwas in mir Bahn, an das ich seit Jahren nicht mehr gedacht hatte.
    Claudia war nachmittags oft bei uns gewesen, wenn meine Mutter arbeitete und Leo und sie »sturmfreie Bude« hatten. Ich sah ihr Lächeln vor mir, ihre langen blonden Haare, die sie zu einem Pferdeschwanz band, wenn sie in die Schule ging, und sofort löste, wenn sie Leos Zimmer betrat. Ich sah, wie sie die Tasche mit den Schulbüchern auf die Kommode in seinem Zimmer warf und ihm um den Hals fiel.
    Doch Claudias Tod war nur der traurige Abschluss jener Tragödie im Sommer 1989 gewesen. Zwei Tage bevor man Claudias Leiche fand, starb mein Freund Charles an einer Kugel, die ihn von hinten getroffen hatte und in seiner Lunge steckengeblieben war. Innerhalb weniger Tage musste ich auf gleich zwei Beerdigungen, während mein Bruder auf der Flucht war und meine Mutter mit ihrer ersten schweren Depression tagelang im Bett lag.
    Die Erinnerung rief lange verdrängte Gefühle hervor.
    »Sie war so jung«, sagte ich. »So lebenslustig und unschuldig.«
    Ich meinte nicht nur Claudia. Wir alle waren jung gewesen, voller Elan und Freude auf das, was das Leben nach dem gerade bestandenen Abitur für uns bereithielt.
    Koslowski schwieg.
    »Warum?«, fragte ich mit einer Stimme, die meine Erregung nur mühsam verbarg.
    »Ich habe sie nicht umgebracht«, sagte Koslowski.
    »Das habe ich verstanden. Aber warum musste sie

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