Bruderschatten
gehen konnte, mich wieder hinter Gittern zu sehen. Die Polizei tat es jedenfalls nicht, sonst wäre ich schneller wieder im Knast gelandet, als jemand bis drei zählen kann.«
»Die Frau wurde zwei Tage lang misshandelt.«
»Und damit war auch dem dümmsten Bullen klar, dass ich nicht in Frage kam, obwohl wesentliche Aspekte mit meiner Methode übereinstimmten.«
»Weshalb geben Sie mir diesen Ordner?«
Er zuckte mit den Achseln, nahm die Zigaretten vom Tisch und zündete sich erneut eine an. Ich ignorierte es. Er sollte weiterreden.
»Kortner hat mich nach dem Mord an dieser Frau erneut verhört. Beim ersten Gespräch war er sich wohl nicht ganz sicher, was er davon halten sollte. Er hat mir ein paar Bilder auf den Tisch geknallt. Na ja. Die sind natürlich nicht in dem Ordner. Der Anblick dürfte für Sie auch kein Genuss sein.«
»Aber für Sie.«
»Das hatten wir doch schon. Aber das Interessante ist was anderes. Sie wurde auf dieselbe Weise …«, er dachte einen Moment nach, »… nun ja … nennen wir es getötet … wie Claudia Langhoff.«
Ich stutzte. »Von einem solchen Zusammenhang stand aber nichts in den Zeitungen.«
»Natürlich nicht. Es stand ja auch nie etwas darüber in der Zeitung, dass die beiden Frauen und die Kinder auf dieselbe Weise starben.«
»Und wie?«, fragte ich benommen.
Koslowski grinste.
»Schauen Sie im Ordner nach. Aber eigentlich wollen Sie es nicht wirklich wissen. Glauben Sie mir.«
Schnell blätterte ich weiter in dem Ordner. Kopien von alten Tatortfotos, Vernehmungsprotokolle, das Gerichtsurteil. Abgegriffene Zeitungsausschnitte, noch mehr Fotos. Ich blätterte noch eine Spur schneller. Polizeifotos von Organen, die säuberlich neben den kleinen Leichen lagen. Jedes dieser Mädchen hatte Eltern hinterlassen, Brüder, Schwestern, Großeltern, deren Schmerz nicht in Worte zu kleiden war.
Wut wuchs in mir. Nichts anmerken lassen, dachte ich, den Kopf gesenkt, die Augen auf den Ordner geheftet.
Dann ein altes Foto von Claudia Langhoff. Die Augen geschlossen. Jung, schön, tot. Bis zum Hals bedeckt mit einem Laken. Ich drückte den Schmerz weg, das Entsetzen, das Grauen. Mir war zum Weinen.
»Gute Dokumentation, was?«, fragte er gelassen.
»Woher haben Sie das alles?«
»Rattert es endlich?«, fragte er.
»Woher wussten Sie damals, dass auch Claudias Organe herausgeschnitten waren, wenn Sie sie nicht ermordet haben und es nicht in der Zeitung stand?«
Er zog die Brauen hoch und grinste noch eine Spur breiter, während seine Stimme wieder diesen arroganten Ton annahm.
»Falls Sie sich erinnern: Ich bekannte mich schuldig. Ein bisschen musste ich also schon wissen, um dem Richter klarzumachen: Hallo, ich war es.«
Die Erkenntnis traf mich blitzartig, und meine Frage war nur rhetorisch: »Kortner?«
»Wer sonst sollte mich ins Bild gesetzt haben?«
»Haben Sie die Kopien und Unterlagen auch von ihm?«
»Woher sollte ich sie wohl haben?«
Ich musterte ihn. Hoffte ich, hinter der Maske dieser unfassbaren Selbstgefälligkeit irgendetwas zu entdecken? Ein Bedauern vielleicht oder Mitgefühl? Doch da existierte nichts außer dem Spott in seinen Augen.
»War das der Deal mit Kortner, als Sie sich schuldig bekannten? Dass Sie nicht nur ins Magdeburger Gefängnis kamen, sondern alle Unterlagen zu den Ermittlungen erhielten?«
Gleichgültig zuckte er mit den Schultern. »Was spielt das für eine Rolle? Ich habe sie. Basta.«
Ich wechselte das Thema.
»Kortner hat jetzt das Problem, dass Sie weder die Frau vor vier Monaten noch Claudia Langhoff ermordet haben.«
Er nickte. »Er sucht einen Nachahmungstäter, und Ihr Bruder käme ihm gerade recht.«
Ich schlug den Ordner zu.
»Ich werde jetzt gehen«, sagte ich und wandte mich zur Tür.
»Ihr Bruder ist im Sommer 89 nicht einfach verschwunden, und Ihr Freund Charles wurde von Lauren Heinecken als Vater ihrer Zwillingstöchter angegeben.«
Der Satz traf mich unvorbereitet wie ein Vorschlaghammer, und ich drehte mich zu ihm um.
»Lauren Heinecken?«, fragte ich überrascht.
Lauren war in meine Klasse gegangen. Eine schüchterne, unscheinbare Person, die kaum Freunde hatte und meistens für sich geblieben war. Später hatten meine Mutter und sie in der Stadtbibliothek zusammen gearbeitet, und ab und zu war sie auf einen Kaffee zu ihr herübergekommen. Ob sie sonst Freunde hatte? Vielleicht. Ich wusste es nicht, denn meine Mutter sprach kaum über sie, und ich hatte Lauren lediglich ein paar Mal getroffen, wenn
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