Bruderschatten
eine Nachricht hinterlassen, und ich würde ihn später zurückrufen.
»Also?«, wandte ich mich wieder an Koslowski.
»Ich hab so meine Vorlieben, wissen Sie.«
Ein Streichholz flammte auf. Koslowski zündete die Zigarette an und schickte einen Rauchschwaden an die Decke.
»Schön für Sie.«
»Ich hab auch meine Prinzipien.«
Er pustete das Hölzchen aus und warf es achtlos in einen schmutzigen Aschenbecher, in dem bereits ein Dutzend Kippen lag. Das Lächeln wich einer konzentrierten Wachsamkeit, und seine Stimme nahm schlagartig einen arroganten Unterton an.
»Die hat jeder Serienkiller«, erwiderte ich und fragte mich inzwischen, weshalb ich eigentlich hier war und mir das selbstgefällige Geschwätz eines pathologischen Mörders anhörte. Das brachte doch nichts, und ich hatte Besseres zu tun. Ich stand auf.
»Sie sollten sich in Geduld üben«, sagte er und zog an seiner Zigarette.
»Das reicht.«
Ich bückte mich nach meiner Handtasche.
»Sehen Sie, ich bin kein gewöhnlicher Serienmörder.«
»Begreifen Sie eigentlich, worüber Sie hier reden?«, fragte ich mit einer Schärfe in der Stimme, die jedem, der mich kannte, signalisierte, dass meine Geduld am Ende war. Wie oft hatte ich dieses aufgeblasene Selbstbewusstsein vor Gericht erlebt. Wie oft war ich Angeklagten begegnet, die logen und betrogen, manipulierten und erpressten, um Stärke, Unangreifbarkeit und Coolness zu demonstrieren.
»Bleiben Sie, Frau Lambert. Und hören Sie mir zu.«
Er atmete Rauch aus und musterte mich durch den Qualm hindurch.
»Bitte, Julie«, sagte er. »Es ist wichtig. Sie werden schon sehen.«
Seine Stimme war leiser geworden, die Arroganz daraus verschwunden.
»Frau Lambert für Sie«, erwiderte ich nicht minder scharf als zuvor und blickte auf ihn hinunter. Hatte ich da gerade ein Bitte gehört?
»Frau Lambert«, wiederholte er und fügte erneut ein »Bitte« an, als hätte er meine Gedanken gelesen.
»Sie haben drei Minuten«, erwiderte ich unwirsch und setzte mich wieder hin.
»Ich habe Kinder getötet«, sagte er.
»Nachdem Sie sie gequält und vergewaltigt hatten.«
»Sie hören mir nicht zu«, sagte er. »Ich sprach von Kindern.«
»Und?«
»Ihre erste große Liebe Charles Swann soll 1989 von Ihrem Bruder hinterrücks erschossen worden sein«, sagte er und inhalierte erneut. »Daraufhin haben Sie Solthaven fluchtartig verlassen, sind nach Leipzig gezogen und haben dort studiert. Sie sind nur noch zu Kurzbesuchen zurückgekommen. Sie haben in Berlin gearbeitet und sind schließlich nach Hamburg gegangen, wo Sie als Reporterin für irgend so ein angeblich aufgeklärtes Blatt schreiben. Vor anderthalb Jahren hatte Ihre Mutter den ersten Schlaganfall. Vor zwei Tagen haben Sie sie hier beerdigt. Ich nehme mal an, Sie hofften, Ihr liebreizender Bruder ließe sich noch mal am Grab seiner Mutter blicken. Das tat er vielleicht sogar, nicht wahr?«
Mir lief es kalt den Rücken hinunter, doch ich hielt seinem Blick stand.
»Worauf wollen Sie hinaus?«
Koslowski starrte einen Moment lang auf seine Hand, die breit und mächtig die schlanke Zigarette hielt.
»Ich versuche Ihnen zu erklären, was Ihr Bruder Ihnen und Ihrer Familie angetan hat.«
»Was geht Sie das an?«
»Sie schleppen ganz schön was mit sich rum.«
»So gut kennen Sie mich?«
»Ich kenne Sie besser, als Sie vermuten«, sagte er. »Sie sind 40 Jahre alt, aufgewachsen hier um die Ecke in Solthaven, abgeschlossenes Studium. Ihr Bruder ist damals untergetaucht, Ihre Mutter war Bibliothekarin, Ihr Vater Arzt. Ihr Sohn heißt Max. Seit Sommer 1989 keine besonderen Vorkommnisse in Ihrem Lebenslauf.«
»Ich kenne meinen Lebenslauf«, sagte ich ruhig, während in mir ein Orkan tobte. Woher hatte Koslowski diese Informationen? »Was also wollen Sie von mir?«
»Wie ich schon sagte, ich hatte mich auf Kinder spezialisiert.«
Er sprach so emotionslos, als würde er über ein beliebiges Hobby reden. Ich nahm an, er sah es im Wesentlichen auch so. Vielleicht sollte ich mich vor ihm ekeln oder wütend werden. Doch das tat ich nicht. Ich arbeitete nicht umsonst als Gerichtsreporterin. Ich hatte Mütter auf der Anklagebank kennen gelernt, die ihre Kinder erst erstickt und dann in Kühltruhen gelagert hatten. Ich hatte Männer erlebt, die ihre Kinder schlugen, bis die zarten Rippen brachen und sich in die kleinen Lungenflügel bohrten. Ich hätte niemals über diese Fälle berichten können, wenn ich nicht gelernt hätte, jederzeit eine professionelle
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