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Bruderschatten

Bruderschatten

Titel: Bruderschatten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Mika Bechtheim
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Tod hatte der Großvater ihm gezeigt, wie man ein Gewehr entsicherte, und er hatte dann im Garten damit schießen dürfen. Mehrmals sogar. Hätte der Großvater ihn nicht jedes Mal festgehalten, wäre er durch den Rückstoß umgefallen. Das war aber hier nicht schlimm. Er musste nur aufpassen, dass er nicht gegen etwas fiel, an dem er sich verletzen konnte. Wenn er der Frau ins Bein schoss, dann konnte er weglaufen.
    Die Frau stand an der Spüle, über die sie ein großes Schneidebrett gelegt hatte.
    Sie hielt ein langes, schmales Messer in der Hand und entbeinte einen Knochen. Einen dicken, runden Knochen. So rund und mächtig wie der, an dem die »Menschenfresserin« in dem Internetartikel über die Kannibalen nagte. Der Knochen war nicht vom Hasen. Den Hasen hatte sie ja draußen in einem Schuppen aufgehängt, nachdem sie zwischen den Läufen einen langen Schnitt in seinen weichen Bauch geschlitzt hatte. Sie hatte einen dicken Bindfaden um seine Hinterläufe gewickelt und ihn mit dem Kopf nach unten an einen Nagel gehängt. Darunter stand eine Zinnwanne, die innen schwarz gewesen war. Vielleicht hängte sie die Kinder dort auch kopfüber auf. Ihm war übel geworden, als sie den Schnitt in das Fell gemacht hatte, und er hatte den Kopf abgewandt. Die Frau hatte ihn ausgelacht, als sie es bemerkt hatte.
    Ihm war auch jetzt übel. Doch wenn er zu dem Gewehr wollte, musste er loslaufen. Sofort. Sie konnte jeden Augenblick fertig sein, und dann war es zu spät. Jetzt musste er es tun, solange die Frau mit dem Fleisch beschäftigt war und ihm den Rücken zuwandte.
    Sein Herz klopfte bis zum Hals. Er sprang vom Stuhl auf, der polternd umkippte. Er rannte zum Gewehr, riss es an sich und machte einen Schritt zur Seite, so dass er den Küchenschrank im Rücken hatte. Der würde ihn stützen, falls er nach dem Schuss nach hinten fiel.
    Die Frau war beim Poltern herumgewirbelt. Sie hielt das Messer in der Hand und sah ihn ungläubig an.
    »Leg es weg, um Gottes willen!«, sagte sie, doch seine zitternden Finger suchten schon den Abzugshebel. Ihr Mund stand offen, als wollte sie noch etwas sagen, doch sie brachte keinen Ton heraus.
    Er fand den Hebel nicht. Sein Herz schien überall zu klopfen, in seinem Kopf, seinen Armen, seinen Beinen. Seine Hände zitterten heftig, als würden sie von hundert Herzen angetrieben, und das Gewehr zitterte ebenso. Er würde es nicht schaffen. Niemals. Er war nicht wie sein Großvater. Er war auch nicht wie die Killer in den Filmen. Er warf das Gewehr zur Seite, während im Gesicht der Frau etwas Sonderbares vor sich ging, das er nicht verstand. Sie lächelte und schloss die Augen.
    Er musste hier weg. Raus. Sofort.
    Er drehte sich um, sprang zur Tür, riss sie auf und stolperte hinaus. Im schummrigen Korridor stieß er sich an der Kommode. Er achtete nicht auf den Schmerz, der ihn durchschoss. Er stürmte weiter, riss die Vordertür auf und sprang die Stufen hinunter.
    Der Neuschnee bedeckte die vereisten Stufen. Schon auf der zweiten Stufe riss es ihm die Beine weg. Für Sekunden hingen sie in der Luft, dann prallte er mit dem Rucksack auf die Stufe, drehte sich um sich selbst, schlug mit dem Kopf auf die nächste Stufe und auf noch eine und landete schließlich am Fuß der Treppe, das Gesicht dem Haus zugewandt.
    Das Letzte, was er sah, war eine dünne Rauchsäule, die kerzengerade aus dem Schornstein stieg und sich im Schneetreiben verlor.

8
    Widerwillig nahm ich Koslowskis Ordner entgegen und blätterte die ersten Seiten flüchtig durch. Zuoberst lagen vier Monate alte Zeitungsausschnitte zu dem Mordfall, der ein paar Tage nach seiner Haftentlassung geschehen war.
    »Was soll das? Sie hatten ein wasserdichtes Alibi.«
    Ich sah ihn an.
    »Eben. Als das passierte, standen hier noch zwei Dutzend Bullen vor dem Haus, weil die immer dachten, früher oder später würden die Leute es abfackeln. Die ersten Wochen hingen hier jeden Tag bestimmt 60 Leute rum, die jeden vermeintlichen Fluchtweg argusäugig bewachten. Hätte ich auch nur einen Fuß vor die Tür gesetzt, hätte es eine Riesensauerei gegeben.«
    »Die Leute verdächtigten Sie. Das war ja wohl verständlich bei Ihrer Vorgeschichte.«
    Ich überflog den Artikel, der obenauf lag, und erinnerte mich an die Meldungen, die ich darüber gelesen hatte: Die 20-Jährige war vergewaltigt und ermordet worden.
    Koslowski grinste. »Mich verdächtigten nur der Mob und irgendwelche Paparazzi und Proll-Journalisten, denen es gar nicht schnell genug

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