Bruderschatten
es. Er ging doch zu einem Logopäden, und der hatte ihm erklärt, wie er sich konzentrieren konnte. Er musste auf seinen Atem achten. Ganz langsam ausatmen, einatmen. Er konzentrierte sich. Sein Gesicht wurde ganz rot vor Anstrengung.
Es half nicht. Er dachte an das wichtigste Wort, wie seine Mutter es ihn gelehrt hatte. Dann eben nur das.
»Hase?« Da war es und schlüpfte rund und glänzend aus seinem weit offenen Mund.
Die Frau lachte auf. Das hatte sie sofort verstanden.
Jan ging zur Spüle hinüber. Er hatte noch immer den Rucksack auf dem Rücken und die Jacke an. Er schob die Ärmel hoch und ließ sich kaltes Wasser über die kleine Wunde an der Hand laufen. Es brannte, und er verzog das Gesicht.
»Na, dich esse ich jedenfalls nicht. Kleine Jungs sind ein bisschen zäh. Sie haben zu viel Muskelfleisch.«
Es klang wie Spaß, aber Jan wusste, dass Erwachsene manchmal klangen, als würden sie Spaß machen, und dann meinten sie es doch ernst. Es war mitunter schwierig, das auseinanderzuhalten.
Er trocknete sich die Hände an einem ausgefransten, grauen Frotteehandtuch ab und ging zum Tisch zurück.
Die Frau wies auf ein paar feuchte Stellen auf dem Fußboden.
»Du hast immer noch irgendwo Blut in deinen Profilsohlen. Wo bist du denn reingetreten?«
Jan blickte auf seine Stiefel. Tränen traten ihm in die Augen. Schon zum zweiten Mal an diesem Tag. Die Stiefel waren aus hellem, ockerfarbenem Wildleder und neu. Doch nun waren sie von dunklen Flecken übersät. Er wusste, dass seine Mutter Blut nur schwer aus seinen Sachen gewaschen bekam, wenn er hingefallen war und sich verletzt hatte. Wie sollte sie es aus dem Leder entfernen?
Er wollte keinen Tee trinken.
Er wischte sich mit dem Handrücken über die Augen.
Er wollte zu Hause sein mit seiner Mutter und mit Pauline. Sie wollten doch heute die Weihnachtseinkäufe erledigen und dann über den Christmarkt bummeln. Es würde ihm auch gar nichts ausmachen, wenn seine Mutter mit ihm schimpfen würde, weil die Schuhe fleckig waren und er eine Sechs im Diktat bekommen hatte. Das machte schon gar nichts mehr. Er wäre sogar froh, wenn sie mit ihm schimpfen würde. Doch dazu musste er hier weg und nach Hause. Nur durfte seine Mutter nicht hierherkommen. Dann würden sie zur Großmutter gehen, und das wäre schlimm.
Obwohl die Frau das Licht eingeschaltet hatte, war die Küche nur spärlich erhellt. Jan sah sich um. Auf der Spüle stapelten sich benutzte Teller, neben dem Herd standen eine Keramikkasserolle und mehrere Töpfe. In einer Ecke lag ein zusammengerutschter Zeitungsstapel neben einem umgefallenen Plastikbeutel, aus dem welke Porreestangen ragten. Auch über dem zweiten Stuhl am Tisch hingen mehrere Hosen und Jacken übereinander. Seine Mutter würde eine solche Unordnung nicht dulden. Wenn Pauline oder er etwas ausgezogen hatten, mussten sie es gleich in den Schrank räumen oder zur schmutzigen Wäsche ins Bad tragen.
»Setz dich«, sagte die Frau und räumte die Sachen von der Lehne des einen Stuhls auf die des anderen.
Folgsam setzte er sich. Sein Rucksack stieß hinten gegen die Lehne, und er saß zu weit vorn, fast auf der Kante. Er legte die Hände vor sich auf den Tisch. Er durfte jetzt nicht weinen. Er musste sich konzentrieren.
Auf dem Weg hierher hatte sie ihm erklärt, wie er in die Stadt gelangen konnte. Sie hatte gesagt, links, immer den Weg entlang, bis er auf einen anderen gelangte. Den müsste er nach rechts und dann immer geradeaus.
Er konnte es schaffen. In Solthaven kannte er sich aus, denn dort wohnte er.
Anderthalb Kilometer, hatte die Frau gesagt, wäre die Stadt entfernt. Das war kürzer als vom Haus seiner Großmutter aus. Außerdem führte ein Weg dorthin. Vom Haus seiner Großmutter ging eine schmale, geteerte Straße zur Stadt. Auf der war er heute Mittag mit dem Bus gekommen.
Aber die Straße hatte er vorhin vor lauter Angst nicht genommen. Da hätte er ihn bestimmt gefunden und ihm dann Schreckliches angetan.
Er kannte das aus den Filmen, die er eigentlich nicht sehen durfte. Doch manchmal, wenn Lauren mit Pauline beim Kinderturnen war, ging er an die DVD-Sammlung und sah sich einen Film an. Den DVD-Player konnte er im Schlaf bedienen. Er hatte es sich von Lauren genau abgeschaut.
Er konnte auch das Gewehr bedienen.
Die Frau hatte es an den Küchenschrank gelehnt. Das war leichtsinnig. Gewehre musste man wegschließen, am besten im Keller. So hatte sein Großvater es immer gemacht.
Im letzten Sommer vor seinem
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