Bruderschatten
ohne ihn hin.
Während mein Sohn hellwach den Abenteuern seiner Lieblingshelden lauschte, fielen mir die Augen zu.
In den ersten Jahren hatte ich ihm selbst vorgelesen, doch später kaufte ich Hörbücher. Seitdem dämmerte ich zwischendurch weg, während Max nicht eine Sekunde verpasste. Er war so. Seine Abenteuerlust war unstillbar. Auch darin ähnelte er meinem Bruder, und manchmal machte mir das Angst.
Das Kapitel war zu Ende, und er zupfte an meinem Arm. Ich öffnete verschlafen die Augen, und er bettelte um ein weiteres Kapitel. Trotz meines schlechten Gewissens blieb ich standhaft. Erziehung muss sein, und mittlerweile war es weit nach neun. Max fügte sich widerwillig, und dann unterhielten wir uns noch. Auch das gehörte zu unserem abendlichen Ritual.
»Gibt es außer Felix noch etwas Neues in der Schule?«, fragte ich.
Er schüttelte den Kopf.
»Hast du deine Mathearbeit schon zurück?«
Wieder schüttelte er den Kopf, und mehr war ihm nicht zu entlocken, egal, was ich noch fragte.
Dieser Dickschädel. Auch darin ähnelte er Leo. Leo war großzügig, großmütig und ein Dickkopf, allerdings einer, der einem nichts nachtrug.
Max war immer noch gekränkt, und seine Freundlichkeit während des Abendessens hatte nicht mir gegolten, sondern allein seinem Großvater.
Mit meiner Erziehung kam ich gerade nicht weiter, und so fragte ich ihn, ob er Lust hätte, am Sonntagnachmittag ins Kino zu gehen.
»In Rango ?« Seine Augen strahlten erwartungsvoll. Er hatte sich im Internet die Trailer heruntergeladen und freute sich seit Wochen auf das Chamäleon, das vom Leben in der Wüste keine Ahnung hatte, aber durch das Schicksal und seine große Klappe in einem Wüstenkaff zum Sheriff wurde.
Ich nickte.
»Toll.« Er gab mir einen Kuss auf die Wange. Ich roch seinen Pfefferminzatem, unter dem der süßliche Vanilleduft des Kinderduschgels lag.
»Gute Nacht, Mama«, sagte er friedfertig.
Mein Herz bekam Flügel, ich lächelte und war glücklich, dass wir uns wieder vertragen hatten. Mit Alex ging das nicht so leicht.
Auch während wir uns später in der Küche noch lange mit meinem Vater über alles Mögliche und natürlich auch über mein Gespräch mit Koslowski unterhielten, blieb die Stimmung zwischen uns gedrückt.
18
Mitten in der Nacht wachte ich mit verspanntem Nacken auf. Es war stockfinster, und im ersten Moment wusste ich nicht, warum ich das Gefühl hatte, dass etwas nicht in Ordnung war. Dann wusste ich es. Es war zu still im Zimmer. Ich tastete auf der anderen Seite der Schlafcouch nach Alex. Er lag nicht neben mir.
Ich stand auf, warf mir eine Strickjacke über und schaute nach, ob er im Bad war. Fehlanzeige. Ich ging zum Treppengeländer in der Hoffnung, dass unten Licht brannte. Unter der Küchentür schimmerte ein heller Streifen hervor. Erleichtert schlich ich auf Zehenspitzen die Treppe hinunter, die sechste Stufe von oben auslassend, die schon geknarrt hatte, als ich ein Kind war.
Leise öffnete ich die Tür. Alex saß am Küchentisch, eine Tasse Kaffee vor sich, und las in Koslowskis Ordner. Er bemerkte mich nicht, und so blieb ich stehen und betrachtete seine Hände, deren zärtliche Berührung mir Schauer durch den ganzen Körper jagen konnten. Ich bewunderte seine Schultern, kräftig und durchtrainiert, und dachte an seine kräftigen Arme, die mich unzählige Male gehalten hatten.
»Hallo«, sagte ich.
Er sah übernächtigt aus, unter den Augen lagen dunkle Ränder, und an seinem Kinn sprossen die ersten Bartstoppeln dunkelblond über einer grauen Haut.
»Was ist los?«, fragte ich, und da er nicht antwortete: »Warst du überhaupt im Bett?«
»Es tut mir leid.« Er sah mich nicht an, als er den Ordner zuklappte.
Es war keine Antwort. »Was tut dir leid?«
Hatte ich das wirklich gerade gefragt? Ich ahnte doch, was er meinte.
»Geh wieder ins Bett«, sagte er. »Wir sprechen später darüber. Bitte.«
»Nein«, sagte ich und setzte mich ihm gegenüber. »Jetzt.«
Er sah mich unbeteiligt an, und ich begann, die Sekunden zu zählen, bis er etwas sagen würde.
Paartherapeuten würden an diesem Punkt raten, den anderen nicht zu bedrängen und nicht sofort alles ausdiskutieren zu wollen. Theoretisch war das richtig. Praktisch jedoch bestand ich auf einer Antwort.
»Ich möchte es jetzt wissen.«
Es war ein Fehler. Kaum hatte ich den Satz ausgesprochen, glimmte vor meinem inneren Auge die Botschaft »Delete«. Doch es gab nichts mehr zu löschen.
Alex machte es kurz: »Ich
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