Bruderschatten
also umgebracht, nachdem du mit ihm gesprochen hast?« Mein Vater saß mir gegenüber und köpfte ein Ei.
»Ja«, sagte ich, eine unbestimmte Abwehr in der Stimme, weil der Satz einen Zusammenhang herstellte, den es meines Erachtens nicht gab.
»Was wollte er von dir?«
Ich zuckte mit den Achseln.
»Keine Anzeichen einer Depression?«, fragte er und klang jetzt ganz wie ein Arzt.
Depressionen? Ich dachte nach.
»Nein. Nichts.«
»Meinst du, es war eine Art Sühne?«
Ich zuckte erneut mit den Achseln, während die Nachrichtensprecherin weitere Meldungen verlas.
Ich hörte nur mit halbem Ohr hin, während ich darüber nachsann, ob Koslowski so etwas wie Reue oder Sühne gekannt haben mochte.
Nein, dachte ich. Der Mann, den ich erlebt hatte, hatte nichts bereut.
Letztlich waren die Gründe für seinen Selbstmord meines Erachtens profan und eher pragmatischer Natur. Koslowski hatte völlig Recht. Er war ein Süchtiger. Er hätte bei nächster Gelegenheit wieder gemordet. Doch wo sollte er eine Gelegenheit finden? Wie sich vor den Augen einer Öffentlichkeit verstecken, die sein Haus belagerte? Wie die Polizeieskorte abschütteln? Wie seine Opfer finden und observieren? Wie eine Gegend erkunden, wenn er seine Bewacher nicht abschütteln konnte? Und warum sollte er sich damit abfinden, dass ein anderer »seine« Morde plante und sich an den Opfern vergnügte?
Als ich nun darüber nachsann, wurde mir klar, dass er seinen Selbstmord wie jeden seiner Morde exakt geplant hatte – und dass ich, Julie Lambert, eine Figur in diesem Plan war. Die Erkenntnis traf mich unvorbereitet, und Übelkeit überschwemmte mich wie eine Jahrhundertwelle, die über mir zusammenbrach und mit sich riss. Kein Ort, nirgends. Nur Ohnmacht, Chaos und alles erstickende Gewalt.
Ich sprang vom Frühstückstisch auf und hörte meinen Vater hinter mir rufen, was los sei. Ich antwortete nicht, sondern rannte auf die Toilette und übergab mich. Doch das, was ich loswerden wollte, ließ sich nicht einfach ausspucken und wegspülen. Ich trug das perfide Vermächtnis eines Serienkillers mit mir herum – und niemand konnte mir das abnehmen.
»Alles okay mit dir?«, fragte mein Vater, als ich zurückkam.
»Ich habe wohl etwas Falsches gegessen«, sagte ich.
In seinem Gesicht breitete sich ein teilnahmsvolles Lächeln aus, und in seinen Augen erschien ein warmes Glänzen. »Bist du schwanger?«
Ich nickte. Ich brachte es nicht über mich, ihm zu sagen, was die Übelkeit tatsächlich ausgelöst hatte.
»Weiß Alex es?«
Ich schüttelte den Kopf und hoffte, er würde nicht fragen, warum Alex abgereist war, ohne sich zu verabschieden. Mein Vater fragte nicht, und ich war ihm dankbar.
»Ich mach dir einen Kamillentee, und später isst du etwas Zwieback«, riet er mir, noch immer lächelnd. »Ich freue mich so für dich, Julie. Wenn Eddie es doch nur noch erfahren hätte.«
»Ich hab es ihr gesagt«, sagte ich. »An ihrem letzten Nachmittag. Ich weiß nur nicht, ob sie es gehört hat.«
»Sie hat dich bestimmt gehört. Noch einmal ein Kind in dieser Familie, das hat sie sich so gewünscht.«
Er lächelte. Dieses Lächeln kannte ich, seit ich denken konnte, und es hatte mir früher ein tiefes Vertrauen geschenkt, dass alles gut werden würde, egal, was passierte.
Bevor mein Bruder verschwand, war mein Vater sehr beliebt gewesen. Er gehörte noch zu jener Generation von Ärzten, denen das Wohl der Patienten wichtiger war als die anschließende Honorarabrechnung. Ich kann mich nicht erinnern, dass mein Vater jemals Patienten abgewiesen hätte. Dafür erinnere ich mich an so manch einen Sonntagvormittag, der eigentlich uns Kindern vorbehalten war und an dem mein Vater trotzdem seine Notarzttasche nahm und zu Hausbesuchen aufbrach. Er war freundlich zu seinen Patienten und fand für jeden die richtigen Worte, ohne jemals viel über sich selbst oder über seine Familie preiszugeben.
Seit jenem verhängnisvollen Sommer war mein Vater jedoch Fremden gegenüber grummelig und wortkarg geworden. Es hatte damit begonnen, dass ein paar seiner ältesten Patienten wegblieben und Bekannte auf die andere Straßenseite wechselten, wenn sie uns trafen. Handwerker sagten Termine ab, Gärtner kamen gar nicht erst, und vermeintlich nette Nachbarn hatten von einem Tag auf den anderen keine Zeit mehr für einen Plausch am Gartenzaun. Selbst ein paar meiner Klassenkameraden sagten nur noch mürrisch »Hallo«, wenn wir einander begegneten.
Im Vergleich zu meinen
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