Bruderschatten
doch »Nein« geantwortet auf die Frage, ob ich Charles noch liebte.
Liebte ich ihn überhaupt noch? Konnte man das nach so langer Zeit? Konnte man einen Toten lieben? Oder liebte man nur eine Erinnerung?
»Zur Hölle damit«, sagte ich halblaut mit einer krächzenden Stimme und stand auf. Ich drehte das Wasser auf und betrachtete mich im Spiegel. Ein bleiches Gesicht starrte mir entgegen. Mechanisch griff ich nach Zahnbürste und Zahnpastatube und putzte mir die Zähne. Dann stellte ich mich unter die Dusche. Das warme Wasser prasselte monoton und beruhigend auf die Haut, doch es reichte nicht, meine Welt wieder ins Gleichgewicht zu bringen.
Zumindest aber musste ich so tun als ob. Das war ich Max schuldig.
Ich griff nach dem blauen Frotteemantel – abgetragen und so alt wie der Haken, an dem er hing – und warf ihn mir über.
Ich legte Make-up auf, zog die Lippen nach, bürstete die Brauen in Form und legte noch etwas Rouge auf. Mit zusammengekniffenen Augen betrachtete ich mich im Spiegel. Ich glich der Frau, die ich normalerweise war, schon ein wenig mehr.
Ich föhnte mir die Haare, schlüpfte in meine Jeans, zog ein weißes T-Shirt an und darüber eine nachtblaue Kaschmirstrickjacke. Noch einmal betrachtete ich mein Spiegelbild. So konnte es gehen. Ich hatte einen mentalen Vorhang herabgelassen, der zweifellos ein paar Löcher besaß, und wer hindurchblickte, riskierte dahinter etwas zu entdecken, das er vielleicht nicht sehen wollte.
Für Max jedoch würde dieser Vorhang genügen.
Ich ließ mich aufs Bett fallen, atmete tief durch und rief Alex an. Ich erwischte nur seinen Anrufbeantworter und hinterließ eine Nachricht. Ich würde ihn vermissen und er möge bitte zurückrufen.
Alex hatte Koslowskis Ordner zurückgebracht, als ich noch schlief. Er lag wieder neben dem Bett auf dem Fußboden, und ich nahm ihn und blätterte darin, die Fotos der Kinder ignorierend. Ich brachte es nicht über mich, sie mir noch einmal anzusehen. Ich betrachtete vielmehr das Foto jener jungen Frau, die vor ein paar Monaten ermordet worden war. Ich dachte daran, was Koslowski erzählt hatte, und blätterte weiter, bis ich die Vernehmungsprotokolle zu Claudia Langhoffs Tod fand. Ich las Koslowskis Geständnis und die Aussagen von Henny Langhoff, Claudias Mutter. Da stand es schwarz auf weiß: Leo hätte einen Tag vor Claudias Verschwinden mit ihr Schluss gemacht.
Wie bitte?
Claudia hätte die Nacht durchgeweint.
Ich las Konrads Aussage und die ihres Vaters. Beide behaupteten ebenfalls, Leo hätte mit Claudia Schluss gemacht. Was sollte das alles?
Claudia hatte sich alle paar Monate von meinem Bruder getrennt. Am nächsten Tag tauchte sie dann wieder auf und versöhnte sich mit ihm. So war es die ganzen vier Jahre lang gewesen.
Weshalb also sollte Leo seine Freundin vergewaltigt und ermordet haben? Und weshalb die junge Frau vor vier Monaten? Das ergab doch alles keinen Sinn. Außerdem war Leo kein Sexualmörder. Nie im Leben.
Aber was, wenn doch? Was, wenn ich ihn nie wirklich gekannt hatte? Und was, wenn Kortner einem anderen nicht nur einen Mord anhängte, sondern bereit war, über Leichen zu gehen, um einen Schuldigen zu präsentieren?
Ich saß angekleidet auf dem Bett und überlegte, was ich tun konnte.
Das Ergebnis war ernüchternd. Ich konnte nichts tun. Nichts für Leo, nichts für Alex, nichts für mich.
20
Ich erfuhr es eine halbe Stunde später in der Küche meines Vaters.
Adam hatte das Radio eingeschaltet, und wir lauschten schweigend den Nachrichten. Die Moderatorin berichtete in kurzen Sätzen, dass sich Roland Koslowski am vergangenen Abend auf dem Dachboden erhängt hatte, nachdem sein Bruder gegen halb zehn zur Nachtschicht in eine Tankstelle gefahren war. Ein zugeschalteter Reporter befragte den Bürgermeister und eine ältere Frau nach der Stimmung im Dorf, und es wunderte mich nicht, dass beide von einem allgemeinen Aufatmen und von einer grundsätzlichen Erleichterung vor allem unter den Eltern sprachen. Der Sprecher des Justizministeriums erklärte, man plane eine Gesetzesänderung, um die Sicherungsverwahrung bei Altfällen, wie Koslowski einer war, auch im Nachhinein anordnen zu können.
In mir regte sich kein Erstaunen, als ich von Koslowskis Selbstmord hörte, und auch sonst kein Gefühl. Ich hatte zwar nicht eine Sekunde angenommen, dass er sich umbringen würde, doch es schien mir nun nur folgerichtig, und ich nahm an, er starb auf seine Art mit einem reinen Gewissen.
»Der hat sich
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