Bruderschatten
denke, ich brauche Abstand und etwas Zeit. Ich komme mit dieser Geschichte im Moment nicht zurecht.«
Ich wollte aufstehen und ihn in die Arme nehmen. Ich wollte diese Sätze wegwischen und sie ungeschehen machen. Doch sie standen zwischen uns wie eine verminte Grenzanlage.
Ich sah an ihm vorbei. »Ich will nicht, dass so etwas mit uns geschieht«, sagte ich leise.
Er schwieg.
Ich senkte den Kopf, sah auf den Küchenfußboden zwischen meinen Knien und rieb mir den Nacken. Die Muskeln waren verspannt, und wenn ich sie nicht irgendwie lockerte, würden mich bald heftige Kopfschmerzen quälen.
»Bist du sicher, dass du nur etwas Zeit brauchst?«, fragte ich, während ich weiter meinen Nacken massierte und darüber nachdachte, dass ich etwas Tröstliches brauchte. Sofort. Etwas zu essen. Vielleicht Schokolade. Ein Stück Kuchen. Irgendetwas Süßes, das man mit klebrigen Fingern in sich hineinschlang. Ich stand auf und schaute im Kühlschrank nach. Es gab nichts Süßes außer einer Flasche Orangensaft.
»Mehr kann ich dazu nicht sagen«, sagte er in meinem Rücken.
Ich öffnete die Flasche, trank in langen Zügen, wischte mir den Mund ab, stellte die Flasche zurück und schloss die Kühlschranktür. Ich drehte mich um.
Er hielt die Kaffeetasse mit beiden Händen vors Gesicht und starrte hinein, als sei ich nicht vorhanden. Ich fühlte mich wie früher als Kind, wenn ich Leo lästig war und er nicht mit mir spielen wollte.
Ich ging zurück ins Bett und wartete auf ihn.
Bei unserer zweiten Verabredung lud Alex mich in »Angie’s Nightclub« ein. Soul, Funk, Rock und Pop. Alles live, und die Drinks waren nicht zu toppen. Vor allem aber hatte der Club eine so winzige Tanzfläche, dass man gar nicht anders konnte, als zu fortgeschrittener Stunde eng aneinandergeschmiegt zu tanzen.
Alex war gern unbeschwert und albern. Er mochte den Cirque du Soleil, ABBA und die Peanuts. Seine Imitation von Charlie Brown war zum Niederknien, und auch bei der zehnten Wiederholung von »Brücken am Fluss« war er immer noch ergriffen, wenn Clint Eastwood im Regen in seinem Auto saß und vergeblich darauf wartete, dass Meryl Streep ihr altes Leben verließ und mit ihm fortging.
Nimm mich mit, flehte ich in Gedanken. Lass mich nicht zurück. Ich halte das nicht noch einmal aus.
Doch jedes Mal, wenn ich die Augen schloss, hörte ich Alex’ abweisende Stimme oder sah Charles, Leo und Eddie vor mir. Jedes Mal schien es dann, als öffnete sich der Boden unter mir.
19
Als ich am nächsten Morgen erwachte, war das Bett neben mir noch immer unberührt. Ich nahm an, dass Alex die ganze Nacht unten in der Küche gesessen und darüber nachgedacht hatte, was er tun sollte.
Über Alex’ Vergangenheit wusste ich nicht viel. Er war in Bayern auf einem Bauernhof groß geworden, bis er mit 14 Jahren in ein englisches Internat gekommen war. Seine Mutter Charlotte, in Essex geboren und im Künstlerstädtchen St. Ivory am Atlantik aufgewachsen, wollte, dass Alex zweisprachig aufwuchs.
Sein Vater stammte aus einer bayrischen Familie, deren Männer seit drei Generationen Tierärzte waren. Alex hatte Philosophie und Geschichte studiert, zunächst in Sussex, danach drei Jahre lang an der Berliner Universität. Er hatte ein Volontariat beim Fernsehen gemacht und drehte seit mehreren Jahren für ein Sonntagsmagazin Features und Reportagen.
Viel mehr wusste ich nicht. Es waren die Eckdaten eines Lebenslaufes, wie man sie jedem Bewerbungsschreiben entnehmen konnte. Wenn ich ihn nach Einzelheiten fragte, blockte er ab. Seine Vergangenheit lag hinter einer klar definierten Grenze, und da ich ihm meine Vergangenheit bis zum gestrigen Abend auch nicht auf einem Silbertablett serviert hatte, hatte ich mich damit zufriedengegeben.
Ich war eher überrascht, dass er nicht doch noch ins Bett gekommen war, als wirklich besorgt. Denn weshalb sollte Alex mich wegen einer Geschichte verlassen, die 20 Jahre her war?
Ich brauchte einen Moment, bis ich realisierte, dass Alex’ Reisetasche nicht mehr neben der Tür stand.
Er hatte es getan. Er war zurück nach Hamburg gefahren.
Ich brauchte noch einmal eine Weile, bis ich fähig war aufzustehen. Wie in Zeitlupe ging ich ins Bad und hockte mich auf den Wannenrand. Mein Kopf fiel nach vorn, meine Schultern hingen herab, und meine Nerven und Muskeln schienen zu schreien: »Warum hast du mich verlassen?«
Ich wünschte mir nichts sehnlicher, als die Zeit zurückzudrehen. Hätte ich doch nichts gesagt. Hätte ich
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