Bruderschatten
Luft.
21
Ich verließ das Haus kurz vor neun. Das Thermometer zeigte ein Grad plus, und Dunst hing über der Stadt. In der Ferne hörte ich die Rotoren eines Hubschraubers. Irgendwo in der Nähe stöhnte der Motor eines Autos auf, das jemand vergeblich zu starten versuchte.
Es war leicht, diesen Ort eine Idylle zu nennen. Hier gab es keine Obdachlosen, die in Hauseingängen campierten, keine Junkies, die sich auf Spielplätzen ihren Schuss setzten, und keine heulenden Alarmanlagen von Autos, die gerade aufgebrochen wurden. Hier kannte jeder jeden, und man grüßte einander. Man wusste, ob die Nachbarn gerade im Urlaub waren, geerbt hatten oder geschieden wurden. Katzen streunten noch über die Grundstücke, und Kinder spielten in den Vorgärten wie Max, der gerade einen Schneemann baute.
»Hi, Mama«, rief er. Das Gesicht gerötet, klopfte er einen Schneeklumpen rund, der neben zwei größeren lag. »Kannst du mir helfen?«
Ich brauchte ihn nur zu sehen, die blaue Wollmütze schief über der Stirn, die dicken Skihandschuhe aus den Taschen seiner Daunenjacke hängend, das hochgerutschte Hosenbein mit Schneekristallen übersät – schon wurde mir warm ums Herz, und ich lächelte. Dabei war mir zum Heulen.
»Das schaffen wir beide nicht«, sagte ich. »Hol Großpapa und lass dir eine Mohrrübe für die Nase und einen Hut geben.«
Er rannte zum Haus zurück. Auf der Treppe drehte er sich noch einmal um. »Kann ich nachher zu Jan?«
Ich nickte. »Aber nicht vor zehn, okay?«
»Okay.« Hinter ihm fiel die Tür ins Schloss.
Ich stopfte die Hände in die Taschen und marschierte durch den Schnee zur Pforte. Einen Augenblick blieb ich stehen und sah von links nach rechts über die verschneite Hecke hinweg.
Links kam ich später an den Mehrfamilienhäusern vorbei und dann an der Kreuzung, an der wir uns als Kinder getroffen hatten, um gemeinsam in die Schule zu gehen. Rechts gelangte ich nur tiefer in die Siedlung, in der ich aufgewachsen war und in der die klassizistischen Bürgerhäuser mit ihren Säulenportalen, Erkern und Balkonen an diesem Morgen so dicke Schneemützen trugen, wie ich sie zum letzten Mal als Kind gesehen hatte.
Ich wandte mich nach rechts.
Der Anblick der Häuser in der Stille des Morgens beruhigte mich. Hier war ich aufgewachsen und eingeschult worden. Hier hatte ich ein paar Gärten weiter meinen ersten Kuss bekommen, und hier hatte ich mich das erste Mal verliebt.
Die Straße war von mächtigen Platanen gesäumt, deren schneeschwere Äste in den grauen Himmel ragten und die der Straße ihren Namen gegeben hatten: Platanenallee. Wir wohnten in der Nummer 27. Diesseits und jenseits der Straße lagen die Häuser hinter Vorgärten, durch die wir als Kinder gerannt waren, ohne uns um das Geschrei der Mütter zu kümmern, wir würden die Beete zerstören und die Pflanzen niedertrampeln. Wir kannten die geheimnisdunklen Winkel sämtlicher Grundstücke und versteckten uns in allen Gärten. Nur den Garten von Laurens Eltern betraten wir nie.
Laurens Mutter, Christa Heinecken, arbeitete bis zum Mauerfall halbtags in einem kleinen Lebensmittelladen, der immer ein wenig schäbig und unaufgeräumt wirkte. Sie war eine nette, doch schüchterne Frau, die arbeitete, weil sie es wollte und nicht weil sie musste wie einige andere, bei denen das Geld hinten und vorn nicht reichte. Laurens Stiefvater Paul verdiente als Oberst der Grenztruppe für damalige Verhältnisse viel Geld. Außerdem soll er seine Hände in ein paar üblen Sachen gehabt haben, die mit der Vergabe von Grundstücken zusammenhingen.
Als Kinder fürchteten wir uns vor ihm. Paul Heinecken war ein Choleriker, der seine Frau und seine Stiefkinder Hinner und die fünf Jahre jüngere Lauren im Garten häufig so laut anbrüllte, dass man es in der ganzen Siedlung hörte. Es war nicht nur einmal vorgekommen, dass ich Laurens Mutter mit verweinten Augen und einem verquollenen Gesicht antraf, wenn sie das Unkraut jätete oder die Wäsche auf die Leine klammerte. Sie drehte sich dann weg, als schämte sie sich.
Lauren kannte ich bis zum Abiturball unseres Jahrgangs nur als ein schweigsames Mädchen mit traurigen Augen und strähnigen Haaren, das in unserer Klasse stets allein in der Bank saß. Schon damals strahlte sie etwas aus, das mich und die anderen Kinder auf Abstand hielt. Vielleicht lag es an den Mundwinkeln, die schon früh seltsam unbeteiligt nach unten hingen und ihr einen mürrischen und abweisenden Ausdruck verliehen. Wenn ich es
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