Bruderschatten
richtig bedachte, war alles an Lauren immer eine Spur zu abwehrbereit gewesen – bis auf diese Nacht unseres Abiturballs.
Ein paar Jungs hatten eine Wette abgeschlossen, ob sie überhaupt kommen würde, doch zu unserer Überraschung war sie sogar pünktlich erschienen. Mit einer neuen Kurzhaarfrisur, die das Oval ihres Gesichts betonte, mit einem langen, blauen Organzakleid, das ihren Körper umfloss, und mit einem gelösten Lächeln, das ich noch nie an ihr gesehen hatte. Sie war so stolz, und sie sah so hübsch aus, dass wir alle erstaunt auf ihre Erscheinung blickten, als sie zwischen ihrer Mutter und ihrem Stiefvater den Saal betrat. Sie trank sogar, und später war sie so beschwipst, dass sie allein tanzte. Sie amüsierte sich königlich, und auch ihre Eltern schienen sich prächtig zu unterhalten. Bis Hinner auftauchte. Lauren stand plötzlich die Panik ins Gesicht geschrieben, und fluchtartig verließ sie die Tanzfläche.
Aus einem Impuls heraus folgte ich ihr.
Sie rannte zu den Toiletten, wo ich sie einholte. Sie heulte, das Mascara war verlaufen, das Make-up fleckig. Als ich sie am Arm berührte, stieß sie mich weg.
»Lauren«, sagte ich. »Was ist denn los?«
»Ich bin schwanger. Das ist los«, stieß sie hervor.
»Na und?«, fragte ich. »Du bist achtzehn, du hast dein Abi in der Tasche und wirst Jura studieren. Wenn du das Kind nicht willst, kannst du es abtreiben. Wo ist das Problem?«
Sie starrte mich an, als hätte ich ihr einen Schlag versetzt.
»Ich werde nicht studieren«, sagte sie. »Und ich darf das Kind nicht abtreiben, obwohl ich erst im dritten Monat bin. Meine Eltern erlauben es nicht. Aber ich darf es auch nicht behalten. Ich soll es zur Adoption freigeben.«
»Du kannst doch wohl selbst entscheiden, ob du es behalten möchtest.«
»Nein«, schluchzte sie. »Du kennst meinen Stiefvater nicht. Und Hinner beschimpft mich als Flittchen und Schlampe.«
»Kann dir nicht der Vater helfen?«
»Der Vater? Den gibt es nicht.«
Was sollte ich dazu sagen? Tut mir leid? Wie konnte das passieren?
Sie wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Ihr Bruder, erzählte sie, hätte gedroht, sie nicht mehr aus den Augen zu lassen und dem Kerl, der ihr das angetan hatte, die Seele aus dem Leib zu prügeln. Ihr Stiefvater hätte zu diesen Drohungen beifällig genickt.
Ich fragte nach ihrer Mutter. Doch Lauren winkte ab. Ihre Mutter könnte ja nicht einmal für sich selbst einstehen. Nur an diesem Abend, das hätte sie sich ausbedungen, dürfte sie tun und lassen, was sie wollte, und bis Hinner aufgetaucht wäre, hätte sie viel Spaß gehabt. Doch jetzt wäre alles vorbei.
Es war das erste und letzte Mal, dass sie mir so viel erzählte, und ich vermutete, dass es ohnehin das einzige Mal in ihrem Leben war, dass sie mit jemandem über sich selbst sprach.
Als ich sie ein paar Tage später auf der Straße traf, wechselte sie demonstrativ die Straßenseite. Ich rief noch mehrmals bei ihr an, doch sie ließ sich jedes Mal verleugnen, obwohl ich wusste, dass sie daheim war.
Natürlich spekulierte ich, wer der Vater sein könnte, weil wir sie nie mit einem Jungen gesehen hatten. Aber Charles? Unmöglich. Charles war mir treu gewesen.
Und wenn nicht?
Niemals hätte er mit Lauren geschlafen, ohne es mir zu beichten. Niemals.
Dennoch nagten Koslowskis Behauptungen und Margos Reaktion auf dem Friedhof an mir, während ich an den Häusern vorbeiging.
Nach dem Abschlussball sprach ich mit Charles und Leo über Lauren. Charles versprach, sich um sie zu kümmern, und ich dachte mir nichts dabei, denn so war er. Er kümmerte sich immer um andere, wenn sie Hilfe brauchten oder schwächer waren als er selbst.
Einige Monate nach dem Abitur, nachdem Charles ermordet und Leo verschwunden war, gebar Lauren zwei Mädchen und gab sie zur Adoption frei. Kurz darauf kauften ihre Eltern den Bauernhof, auf dem ihre Mutter Christa auch nach Pauls Tod noch immer lebte.
Lauren zog zu ihrer Großmutter in unsere Siedlung, und ihr Bruder Hinner übernahm nach Beendigung seines Studiums das Elternhaus.
An diesem Morgen fiel Licht aus Hinners Wohnzimmerfenster, und ich fragte mich, ob er seine Frau wohl auch anschrie – und ob Lauren Charles tatsächlich als Vater angegeben hatte.
Ich ging weiter.
Das Haus auf der anderen Straßenseite gehörte den Kiesers. Rita Kieser war vier Jahre älter als ich und mit Leo in eine Klasse gegangen. Er hatte sich in sie verliebt, als er vierzehn war. Ich erwischte die beiden, als sie
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